„Alles klar, wir können losfahren!“
Interview mit Markus Bast, Managing Director und Direktor Vertrieb B2B DACH der Michelin Reifenwerke AG & Co. KGaA
Das Interview führten: Manfred Brinkmann und Dr. Endre Hagenthurn
Wirtschaftsforum: Herr Bast, Michelin ist nicht nur für seine Reifenkompetenz, sondern auch für seinen weltberühmten Guide Michelin bekannt – und engagiert sich inzwischen noch in zahlreichen weiteren Anwendungsfeldern. Welche Impulse verfolgen Sie aktuell besonders intensiv?
Markus Bast: Die weitreichende Ausdifferenzierung unseres Tätigkeitsspektrums erfolgte schon immer mit einem klaren Blick auf die Bedürfnisse der Endanwender unserer Produkte: Als das Automobil im frühen 20. Jahrhundert kräftig an Fahrt aufnahm, erkannte Michelin, dass seine Kunden nicht nur hochwertige Reifen benötigten, sondern auch wertvolle Tipps zu schätzen wussten, wo man verlässlich Benzin bekommen, schön essen gehen und angenehm übernachten konnte – darin lag die Keimzelle für den Guide Michelin, auf dessen nachhaltigen globalen Erfolg wir weiterhin sehr stolz sind.
Derzeit steht natürlich der Wandel in der Mobilität in all seinen Facetten klar im Fokus von Michelin – so wollen wir etwa mit unserem Unternehmen Symbio, das wir 2019 als Joint Venture mit Faurecia gegründet haben, unsere gewachsene Materialkompetenz in die weitere Verbesserung der Membranen von Brennstoffzellen einbringen und diese Technologie damit nachhaltig vorantreiben. Aber auch jenseits des Autos ist unsere Expertise gefragt – etwa in der Schifffahrt, wo wir mit Wisamo ein nachrüstbares Segel entwickelt haben, das an Masten auf Containerschiffen befestigt wird, sodass diese den Wind für sich nutzbar machen und entsprechend ihren Treibstoffverbrauch reduzieren können.
Wirtschaftsforum: Welche Rolle spielt neben der ausgewiesenen Materialkompetenz inzwischen das Thema Big Data für Michelin?
Markus Bast: Eine große – und zwar unternehmensintern wie auch in der direkten Zusammenarbeit mit unseren B2B-Kunden. Mit MICHELIN Connected Fleet können wir beispielsweise eine Vielzahl von Flottendaten erheben, eingehend auswerten und auf dieser Basis wirkmächtige datengestützte Entscheidungshilfen bereitstellen – für einzelne Spediteure wie für ganze Kommunen. So lassen sich aus diesen Daten mitunter wichtige Erkenntnisse zu neuralgischen oder gar gefährlichen Stellen in der örtlichen Verkehrsführung oder Empfehlungen für optimale Geschwindigkeitsbegrenzungen ableiten.
Ein solches Projekt haben wir beispielsweise mit der Stadt Lyon umgesetzt. Einzelne Flottenbetreiber können derweil durch unsere übersichtlich aufbereiteten Daten und ein Gespräch mit unseren Fachberaterinnen erkennen, wann Peaks im Kraftstoffverbrauch auftreten, und somit wichtige Energieeinsparpotenziale aufdecken. In unseren eigenen Prozessen konnten wir dank einer tiefgreifenden Digitalisierung ferner unsere Entwicklungszyklen nachhaltig beschleunigen, etwa indem wir durch umfassende Computersimulationen die erforderlichen Tests in der realen Umgebung samt dem damit verbundenen logistischen Aufwand deutlich reduziert haben.
Wirtschaftsforum: Wie wird sich dabei der Reifen an sich in der Zukunft verändern?
Markus Bast: Er wird mit Sicherheit nachhaltiger werden – daran arbeiten wir schon seit über 30 Jahren, als wir 1992 mit dem MICHELIN Energy Saver einen ersten wichtigen Impuls zur Schärfung des allgemeinen Umweltbewusstseins in unserem Markt setzen konnten. Heute verfolgen wir vielfältige Ansätze, die uns in ihrer Gesamtheit die Erreichung unserer ambitionierten Ziele ermöglichen sollen: Bis 2050 wollen wir unsere Reifen vollkommen aus biobasierten und recyclebaren Rohstoffen herstellen, bis 2030 schon zu 40%. In der Spitze können wir diese Werte bereits übertreffen: Beim letztjährigen 24-Stunden-Rennen von Le Mans haben wir beispielsweise einen Reifen vorgestellt, der schon zu fast zwei Dritteln aus nachhaltigen Materialien hergestellt wurde – und dessen überzeugende Performance ohne umfassende Computersimulationen nur mit viel größerem Aufwand erreichbar gewesen wäre.
Jenseits der Prozessoptimierung sowie eines möglichst geringen Reifenabriebs und des Einsatzes neuer und innovativer Rohstoffe sehen wir zudem in der holistischen Betrachtung des gesamten Produktlebenszyklus‘ einen wichtigen Aspekt, auf den das ganze Unternehmen einen großen Fokus legt: Gemeinsam mit dem schwedischem Start-Up Enviro haben wir einen neuen Recycling-Prozess entwickelt, in dessen Rahmen Altreifen in ihre ursprünglichen Bestandteile zersetzt werden, die dann wiederum erneut in den Produktkreislauf einfließen. Bisher konnten wir diesen Ansatz bereits in einem Werk in Chile umsetzen. In den nächsten Jahren wollen wir uns damit auch in unseren europäischen Märkten engagieren, in denen der Nachhaltigkeitsdruck durch die politischen Entscheidungsträger deutlich höher ist – was wir ausgehend von unseren eigenen Überzeugungen ausdrücklich begrüßen.
Wirtschaftsforum: Was bedeutet dieses vielfältige und gleichzeitig fokussierte Engagement perspektivisch für die Marke Michelin?
Markus Bast: Grundsätzlich sehen wir uns als Mobilitätsanbieter, mit allen damit zusammenhängenden Assoziationen. Mobilität bedeutet Freiheit – jeder Mensch und jedes Unternehmen möchte und muss mobil und agil sein. Die Mission von Michelin besteht somit darin, alle Menschen in die Lage zu versetzen, ihre Freiheit so zu leben, wie sie es möchten. Gerade für unser Kerngeschäft Reifen spielt dabei das Thema Sicherheit eine zentrale Rolle – im B2B-Segment wie im Privatkundengeschäft. Denn bei hohen Geschwindigkeiten ist die Auflagefläche des Reifens auf der Straße gerade noch so groß wie eine Postkarte – diesem Produkt vertrauen Sie damit am Ende des Tages Ihr Leben und das Leben Ihrer Familie an.
Wirtschaftsforum: Der Reifen ist und bleibt damit ein hochemotionales Produkt?
Markus Bast: Als Premium-Hersteller mit einem unverrückbaren Qualitätsbewusstsein liegt eine zentrale Aufgabe unseres Unternehmens sicherlich in einer nachhaltigen Customer Education. Dazu arbeiten wir eng mit den Händlern zusammen, um den Endkunden den nötigen Kontext zu vermitteln: Denn wer sich eine Limousine für mehrere Zehntausend Euro anschafft, trifft meist nicht die beste Entscheidung, wenn er beim Reifen – einer zentralen sicherheitsrelevanten Komponente – wenige Hundert Euro sparen möchte. Auch das Thema Nachhaltigkeit liegt durch seine verstärkte Breitenwirkung im öffentlichen Diskurs immer mehr Menschen am Herzen, was sich hervorragend mit der gewachsenen Haltung von Michelin deckt – ein weiterer wichtiger Ansatz für eine emotionale Kundenansprache.
Wirtschaftsforum: Nicht zu vergessen das Michelin-Männchen!
Markus Bast: Das kannte sogar meine damals sechsjährige Tochter, als ich vor fünf Jahren meine Tätigkeit im Unternehmen aufnahm – obwohl ich mit ihr noch nie zuvor über Michelin gesprochen hatte! Und nachdem ich einige Zeit später in ihrer Schulklasse über Michelin referiert hatte, berichtete man mir, wie einer ihrer Mitschüler bei der nächsten Klassenfahrt auf das Michelin-Männchen auf dem Reifen am Bus gezeigt und dann freudig verkündet hatte: „Alles klar, wir können losfahren!“ Genau dieses verlässliche Sicherheitsempfinden möchten wir als Marke transportieren.
Wirtschaftsforum: Was sind am Ende des Tages die Gründe für diesen anhaltenden Unternehmenserfolg?
Markus Bast: Es ist so einfach und doch so schwierig: Alles steht und fällt mit den Menschen in unserer Organisation. Noch heute spürt man, dass Michelin jahrzehntelang als Familienunternehmen geführt wurde. Denn die zentralen Werte, die sich aus dieser ursprünglichen Haltung ergeben – Respekt vor den Mitarbeiterinnen, vor den Kunden, vor den Anteilseignern, vor der Umwelt und vor der Gesellschaft – prägen bis heute den Umgang mit allen Stakeholdern sowie unser gesamtgesellschaftliches Verantwortungsgefühl.
Interview:
Manfred Brinkmann
und Dr. Endre Hagenthurn