„Brexit für Deutschland definitiv von Nachteil“

Interview mit Management-Denker Prof. Dr. Hermann Simon

Wirtschaftsforum: Herr Prof. Simon, Sie beschäftigen sich mit der Welt nach dem Brexit im Jahr 2030 und der möglichen Verschiebung von Machtverhältnissen. Ist das nicht zu weit vorgegriffen?

Prof. Dr. Hermann Simon: Im Moment lässt sich in der Tat schwer abschätzen, wie die Situation Deutschlands, Großbritanniens und der EU in Globalia, der Welt der Zukunft, aussehen wird. Zumindest sind dazu einige Annahmen notwendig, die sich nicht unbedingt so realisieren werden. Um überhaupt eine Prognosebasis zu haben, nehme ich einmal an, dass erstens die Europäische Union zusammenbleiben und zweitens der Brexit vollzogen wird. Die EU dürfte in 2030 in der Außen- und der Verteidigungspolitik geschlossener auftreten als heute. Idealerweise gäbe es eine europäische Armee, aber das ist vielleicht etwas zu optimistisch gedacht. Großbritannien wird als einzelnes Land auf der globalen Bühne erscheinen.

Hermann Simon
„Im Jahre 2030 wird es drei Mächte von globaler Bedeutung geben – und zwar nur drei: die USA, nach wie vor die Nummer 1, China und die EU.“ Prof. Dr. Hermann Simon

Wirtschaftsforum: Können Sie bereits konkreter sagen, inwiefern sich – verglichen mit heute - die wirtschaftliche Rolle Deutschlands, Großbritanniens und der EU auf dem internationalen Wirtschaftsparkett verändern wird?

Prof. Dr. Hermann Simon: Im Jahre 2030 wird es drei Mächte von globaler Bedeutung geben – und zwar nur drei: die USA, nach wie vor die Nummer 1, China und die EU. Großbritannien wird im Konzert dieser Drei nicht beteiligt sein, sondern zusammen mit Ländern wie Japan, Russland, Indien und Brasilien in der zweiten globalen Liga spielen. Das gilt auch in wirtschaftlicher Hinsicht, denn die drei Großen werden gut die Hälfte des weltweiten Bruttoinlandsproduktes auf sich vereinen. Alle anderen Länder sind einzeln betrachtet wirtschaftlich von untergeordneter Bedeutung.

Wirtschaftsforum: Welche Gründe machen Sie für die von Ihnen prognostizierten Veränderungen verantwortlich?

Prof. Dr. Hermann Simon: Trotz der momentanen Rückschläge bin ich überzeugt, dass der weitere Fortgang der Globalisierung nicht aufzuhalten ist. Solche großen Entwicklungen verlaufen nicht kontinuierlich, sondern in Wellen. Es gibt immer wieder Rückschläge. Wenn aber die Globalisierung voranschreitet, dann sind große Wirtschaftsräume wie die EU, die USA und China im Vorteil. Innerhalb dieser Volkswirtschaften, die in 2030 jeweils Bruttoinlandsprodukte von mehr als 20.000 Milliarden Euro erreichen, läuft der Austausch von Waren und Dienstleistungen relativ frei von bürokratischen Hindernissen.

Wirtschaftsforum: Und Großbritannien verschwindet in der  Bedeutungslosigkeit?

Prof. Dr. Hermann Simon: Ein einzelnes, kleineres Land, das sich abschottet, hat demgegenüber sicherlich Nachteile. Und in der Politik zählen letztlich Wirtschaftsstärke, Bevölkerung und Territorium. Bei jedem dieser Kriterien ist Großbritannien ein „kleines“ Land. Die Vorstellung, dass ein solches Land im globalen Spiel noch großen Einfluss hat, erscheint mir unrealistisch.

Hermann Simon
„Der Brexit ist für Deutschland definitiv von Nachteil.“ Prof. Dr. Hermann Simon

Wirtschaftsforum: Blicken wir auf Deutschland: Welche Wirtschaftszweige werden vom Brexit profitieren, welche nicht?

Prof. Dr. Hermann Simon: Profitieren werden wenige. Der Brexit ist für Deutschland definitiv von Nachteil. Großbritannien importierte in 2015 Waren im Wert von 89 Milliarden Dollar aus Deutschland, das sind 7,5% unserer Exporte. Das Land ist damit nach den USA und Frankreich unser drittgrößter Exportkunde. Profitieren kann die Finanzindustrie durch Verlagerungen nach Deutschland. Aber das wird sich in einem engen Rahmen halten. Profitieren werden auch die Branchen, in denen es starke Konkurrenz aus Großbritannien gibt. Dazu zählen beispielsweise die Chemie- und die Pharmaindustrie. Auch für die Autoindustrie gibt es neue Chancen, denn England ist ein bedeutender Standort der Automobilproduktion. Wenn die dort gefertigten Autos beim Export in die EU mit einem Zoll belegt werden, ist das für Produzenten in Deutschland von Vorteil. Aber die Dimension dieser Effekte sollte man nicht überbewerten.Wirtschaftsforum: Was ist jetzt das Gebot der Stunde für deutsche Unternehmen, die bislang pessimistisch in die Zukunft nach dem Brexit  blicken?Prof. Dr. Hermann Simon: Mein erster Rat ist: ruhig bleiben, nichts überhasten. Zunächst ändert sich ja nichts. Und wie lange die Verhandlungen dauern, weiß heute niemand. Die Engländer müssen zunächst ihre Angelegenheiten mit Drittländern, mit denen sie bisher über die EU vertraglich gebunden waren, klären. Wann sie den Antrag auf Austritt nach EU-Artikel 50 stellen, ist völlig ungewiss. Und erst dann beginnt die Zweijahresfrist. Vor 2019 wird sich also definitiv nichts ändern. Und wer weiss, was danach rauskommt. Vielleicht erweisen sich die Bedingungen für Großbritannien als so schlecht und man lässt in einem neuen Referendum abstimmen, das dann mit dem Verbleib in der EU endet. Auch Schottland ist in diesem Spiel eine große Unbekannte. Wenn es allerdings um langfristige Bindungen, etwa um Investitionen in Fabriken oder in Immobilien geht, wäre ich vorsichtig. Ich würde hier eher abwarten, bis klarer wird, wohin die Reise geht.

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Wirtschaftsforum: Einen selbsternannten Brexit-Gewinner gibt es bereits: Die deutsche Start-up-Szene malt sich eine glänzende Perspektive für den Start-up-Standort Berlin aus  – zu Recht?

Prof. Dr. Hermann Simon: Auch hier sehe ich keinen Anlass für Aufregung und übertriebene Euphorie. Berlin ist schon jetzt ein sehr attraktiver Standort für Start-ups, nicht nur national, sondern auch international. Natürlich wird es einige geben, die ihr neues Unternehmen lieber in einem EU-Land als in Großbritannien gründen und Berlin wird davon profitieren. Aber dass daraus eine riesige Welle entsteht, erwarte ich nicht. Das dürfte vor allem Nicht-Briten betreffen. Und die Zahl der von Nicht-Briten in London gegründeten Start-ups ist nicht so gigantisch. Zudem werden beispielsweise Franzosen eher nach Paris, Holländer nach Amsterdam ziehen, so dass Berlin nur einen Teil der Umzüge oder Neugründungen von Start-ups abbekommt.

Wirtschaftsforum: Könnte der EU-Austritt Großbritanniens sogar zu mehr erfolgreichen Kooperationen zwischen etablierten Unternehmen und Start-ups führen?

Prof. Dr. Hermann Simon: Ich glaube nicht, dass der Brexit hierauf großen Einfluss hat. Jedenfalls sehe ich hinsichtlich derartiger Kooperationen keine signifikante Kausalität.


Über Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Hermann Simon
Managementdenker, Wirtschaftsprofessor und Bestseller-Autor Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Hermann Simon gehört zu den führenden Preisexperten. Als Experte für Strategie, Marketing und Pricing berät er Unternehmen weltweit. Simon war Professor für Betriebswirtschaftslehre und Marketing an den Universitäten Mainz (1989-95) und Bielefeld (ab 1979). Er arbeitete als Gastprofessor an zahlreichen Hochschulen: Harvard Business School, Stanford, London Business School, INSEAD, Keio-Universität Tokio und Massachusetts Institute of Technology. Von 1985 bis 1988 leitete er das Universitätsseminar der Wirtschaft (USW), Schloss Gracht/Köln.

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