Die Innovationskraft im Justizwesen: Ein Gespräch über KI und Datensicherheit
Interview mit Dr. Heiko Pfeffer-Orth, CEO der Westernacher Solutions GmbH und Mitglied des Vorstands der Westernacher Gruppe
Wirtschaftsforum: Herr Dr. Pfeffer-Orth, Westernacher Solutions hat eine eher ungewöhnliche Firmengeschichte und ein ebenso ungewöhnliches Unternehmensmodell. Erzählen Sie uns davon.
Dr. Heiko Pfeffer-Orth: Westernacher wurde bereits Ende der 1960er-Jahre gegründet. Das Unternehmen wuchs kontinuierlich organisch ohne die Beteiligung externer Investoren. Seit 2004 besteht das Unternehmen aus zwei Sparten, der Westernacher Consulting mit einem Schwerpunkt auf SAP Beratung, und der Westernacher Solutions als Spezialist für LegalTech und GovTech. Was uns als Unternehmen wirklich besonders macht ist, dass die Westernacher Gruppe -bestehend aus den beiden Sparten- als Aktiengesellschaft geführt wird, deren Anteile sich ausschließlich im Besitz der aktiven Mitarbeitenden befinden.
Wirtschaftsforum: Ein Ansatz, wie er so und vor allem auch in dieser Größenordnung nicht häufig zu finden ist. Wie wirkt sich das auf Ihre Unternehmenskultur aus?
Dr. Heiko Pfeffer-Orth: In den meisten Unternehmen haben Investoren und Unternehmer:innen oft ganz andere Interessen als Mitarbeitende. Bei uns sind aber die Mitarbeitenden gleichzeitig die Besitzer:innen, so dass dieser Interessenkonflikt auf ganz natürliche Weise nicht existiert. Unsere drei zentralen Werte sind direkte Konsequenzen aus diesem Unternehmensmodell: Value Creation – etwas Sinnvolles tun, das Mehrwerte schafft; Partnership – ein Agieren auf Augenhöhe, da uns das Unternehmen gemeinsam gehört; und Entrepreneurship – wir verstehen uns als Plattform für Menschen mit Eigeninitiative, die Themen voranbringen, neue Geschäftsfelder erschließen, etwas verbessern wollen. In dem Moment, in dem Mitarbeitende zu Aktionären werden, entsteht eine besondere Bindung zum Unternehmen, zu dessen Erfolg – und damit auch dem eigenen – jede:r mit ihrer/seiner Arbeit unmittelbar beiträgt.
Wirtschaftsforum: Wie lässt sich das Unternehmen in Zahlen ausdrücken?
Dr. Heiko Pfeffer-Orth: In der Gruppe haben wir inzwischen 1.000 Mitarbeitende und weit über 100 Millionen EUR Jahresumsatz. Auf die Westernacher Solutions entfallen dabei ca. 170 Mitarbeitern und 17 Millionen EUR.
Wirtschaftsforum: An welche Arten von Kunden wenden Sie sich mit Ihren Lösungen und was für Lösungen sind das?
Dr. Heiko Pfeffer-Orth: Wir sind Experten für Digitalisierung im öffentlichen Bereich, speziell in der Justiz. Wir haben eine sehr breite Expertise im Bereich sicherer IT-Systeme, also solchen, die besonders hohen Ansprüchen an Sicherheit und Datenschutz genügen. Themen wie Cloud-Sicherheit oder digitale Identitäten, d.h. die Frage, wie ich mich in der digitalen Welt ausweisen bzw. Nachweise erbringen kann, stehen dabei im Vordergrund. Unser zweiter Schwerpunkt liegt auf der Automatisierung: überall dort, wo sich wiederkehrende Muster, Strukturen und Abläufe erkennen lassen, ist Automatisierungspotenzial gegeben. Während solche Lösungen in der Vergangenheit stark durch regelbasierte Systeme oder später semantische Beschreibungen geprägt wurden, stehen bei uns seit über 5 Jahren KI-basierte Lösungen im Vordergrund. 2019 haben wir hier unser erstes Projekt zur automatisierten Datenextraktion aus juristischen Texten mittels Natural Language Processing (NLP) umgesetzt.
Wirtschaftsforum: Das sind natürlich zwei Bereiche, die in der öffentlichen Verwaltung und der Justiz eine große Rolle spielen, oder?
Dr. Heiko Pfeffer-Orth: Genau. Unsere Kernexpertise im Bereich der Automatisierung und IT-Sicherheit macht uns auf natürliche Weise zu einem Spezialisten für die digitale Transformation in der Justiz: Zum einen sind die in der Justiz verarbeiteten Informationen in der Regel hoch vertraulich und sensibel, was entsprechend in der Entwicklung von IT-Lösungen Berücksichtigung finden muss; oftmals sind diese Sicherheitsanforderungen sogar gesetzlich verankert. Zum anderen sind die Prozesse und Abläufe in der Regel wiederkehrend und dadurch gut automatisierbar; die Herausforderung liegt häufig in der großen Anzahl der Prozessbeteiligten. Da in der Justiz und auch der öffentlichen Verwaltung Datenbestände in vielen Fällen nicht allein aus strukturierten, maschinenlesbaren Daten bestehen, sondern auch aus Dokumenten und Schriftstücken, ist deren Prozessierung besonders herausfordernd. Hier wurden im Bereich der KI in letzter Zeit große Fortschritte gemacht, die die digitale Transformation weiter beschleunigen.
Wirtschaftsforum: Sie arbeiten für Ministerien und Kammerorganisationen wie die Bundesrechtsanwaltskammer und Bundesnotarkammer, für Gerichte und Behörden; aber Sie entwickeln auch selber Softwareprodukte?
Dr. Heiko Pfeffer-Orth: Das ist richtig, ja. Da wir seit vielen Jahren für fast alle Seiten der Justiz und öffentlichen Verwaltung tätig sind, kennen wir die echten Bedürfnisse recht gut und stellen immer dort maßgeschneiderte Lösungen bereit, wo wir einen echten Nutzen sehen, ein echtes Problem lösen können. So haben wir mit NOAH eine Notariatssoftware entwickelt, mit der sich alle Prozesse in einem Notariat sehr stark automatisiert abbilden lassen – auf eine moderne und zukunftsorientierte Art. Mit FYDLOX haben wir ein Tool bereitgestellt, mit dem sich die Dokumente, die zwischen Gerichten, Kanzleien und Notariaten ausgetauscht werden, sogenannte EGVP-Nachrichten, sicher archivieren und speichern lassen. Und zum Jahreswechsel haben wir unser Portfolio durch die Übernahme der Justin LegalTech GmbH erweitert, einem Unternehmen, das sich dem digitalen Onboarding verschreibt und so sicherstellt, dass alle notwendigen Daten in Kanzleien, Notariaten, aber auch bei Versicherungen oder Finanzdienstleistern, vollständig und digital eingehen. Letztendlich ist das die Grundvoraussetzung für jede erfolgreiche digitale Transformation und Digitalisierung von Prozessen: hochwertige und vollständige Daten.
Wirtschaftsforum: Welches Zukunftsbild haben Sie für Westernacher Solutions, wohin möchten Sie das Unternehmen in den nächsten Jahren führen?
Dr. Heiko Pfeffer-Orth: Viele wichtige Themen der digitalen Transformation in der Justiz und der öffentlichen Verwaltung werden mittlerweile auf europäischer Ebene diskutiert und beschieden. Hier möchten wir unsere Expertise und Lösungen zukünftig noch stärker einbringen. Gerade in Europa kann die Digitalisierung nicht an Landesgrenzen aufhören.