Menschsein war noch nie so anstrengend wie im 21. Jahrhundert

Interview mit Leon Windscheid, Wirtschaftspsychologe und Unternehmer

Wirtschaftsforum: Sie sind mit unterschiedlichen Programmen regelmäßig als Speaker unterwegs. Sehen Sie das Speakerbusiness als Unternehmertum?

Leon Windscheid: Nein, ich sehe mich nicht als klassischen Speaker und ich sage auch nur Veranstaltungen zu, die mir persönlich etwas zurückgeben. Meine Vorträge sind nicht einseitig, ich arbeite mit den Zuhörern sehr viel zusammen. Ich beantworte die Fragen in einer Fragerunde, stelle allerdings auch Fragen an die Teilnehmer. So entsteht eine Diskussion. Wenn ich einen Vortrag halte und es zum Beispiel um Digitalisierung geht, freue ich mich, dieses Thema zu erarbeiten und selbst einiges zu erlernen. Als Wissenschaftler ist es mir wichtig, neutral zu berichten und nicht nur das Interesse eines einzelnen Unternehmens oder Mitarbeiters voranzutreiben. Wenn ich eine neue Perspektive in den Vortrag einbringe, wird es doch gerade erst spannend. Ich bringe die aktuelle Wissenschaft gepaart mit Psychologie näher.

Wirtschaftsforum: Wen wollen Sie mit den Vorträgen erreichen?

Leon Windscheid: Die Zielgruppe ist breit aufgestellt. Für die Themenvorträge biete ich ganz individuelle Setups an. Ich war bereits in ganz unterschiedlichen Unternehmen, in Universitäten und Schulen oder Bildungseinrichtungen.

"Hirn und Welt haben mal zusammengepasst, sich allerdings wie ein altes Ehepaar auseinandergelebt." Dr. Leon WindscheidWirtschaftspsychologe und Unternehmer
 Leon Windscheid

Wirtschaftsforum: Ihr neues Programm für Ihre Tour 2020 heißt „Altes Hirn, neue Welt“. Was steckt hinter diesem Titel?

Leon Windscheid: Ich erlebe, dass wir mit unserem Gehirn, das 300.000 Jahre alt ist, denn so lange wurde unser Gehirn von der Natur nicht mehr angepasst, eine Welt geschaffen haben, die nicht mehr zu unserem Gehirn passt. Hirn und Welt haben mal zusammengepasst, sich allerdings wie ein altes Ehepaar auseinandergelebt. Das ist gefährlich, es führt dazu, dass viele Menschen nicht mehr wissen, wie sie sich verhalten sollen. Menschsein war noch nie so anstrengend wie im 21. Jahrhundert. Das ist ein großes Problem. Immer mehr junge Menschen erfüllen Kriterien, die zu Depressionen führen können.

In meinem Programm gehe ich auf die Suche nach dem Warum. Natürlich ist so ein Abend keine Therapiesitzung, es ist ein wissenschaftlicher Ritt durch das eigene Hirn. Das Ziel ist es, sich selbst besser zu verstehen und auch die Personen, die neben einem sitzen. Ich führe viele Live-Experimente durch und es wird natürlich auch viel gelacht. Ich möchte dem Publikum einen Impuls mitgeben.

"Stress ist nicht schlechtes, der falsche Umgang mit Stress ist das Problem." Dr. Leon WindscheidWirtschaftspsychologe und Unternehmer
 Leon Windscheid

Wirtschaftsforum: Haben wir in der heutigen Zeit mehr Stress als früher?

Leon Windscheid: Es liegt in der Gesellschaft ein großes Missverständnis zu Grunde: Stress ist etwas Negatives. Das stimmt so nicht. Wir können ohne Stress nicht überleben, denn er ist eine Funktion unseres Körpers, mit einer belastenden Situation umzugehen und besser zu funktionieren. Er ist also nicht per se etwas Schlechtes. Schwerverliebte Menschen stehen zum Beispiel unter Stress und das ist in dem Fall etwas Positives. Stress wird schlimm, wenn er zum Dauerzustand wird und wir die Kontrolle verlieren.

Ich denke, es ist an vielen Stellen heute stressiger als vor einigen Jahren. Die Menschen haben sich ein Umfeld geschaffen, in dem sie den Stress nicht kanalisieren können. Das ist sehr gefährlich. Stress ist nichts Schlechtes, der falsche Umgang mit Stress ist das Problem.

Wirtschaftsforum: Sie sagen: „Die Leute können sich nicht mehr langweilen.“  Warum ist Langeweile ein wichtiger Teil unseres Lebens und wie bekommen wir sie zurück?

Leon Windscheid:  In unserem Kopf passiert nichts ohne Grund. Langweile fühlt sich nicht schön an. Langweile ist per Definition ein unangenehmer Zustand, das liegt daran, dass sie uns etwas sagen möchte: „Das, was du gerade tust, bringt dich nicht vorwärts, guck dich um und such dir etwas anderes“, das ist die Funktion von Langeweile. Ich erlebe es immer wieder, dass Menschen Langeweile gar nicht erst zulassen und sich vom Handy oder Netflix berieseln lassen. Dann fühlt es sich gar nicht mehr so schlimm an, gelangweilt zu sein, aber das ist nicht der richtige Weg.

Interview: Vera Gaidies | Fotos: Daniel Witte

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