Andreas Rettig: Einem guten Manager muss man nicht sagen, wann er Haltung zu bewahren hat
Interview mit Andreas Rettig, kaufmännischer Geschäftsleiter des FC St. Pauli

Wirtschaftsforum: Viele Menschen monieren in gesellschaftlichen Bereichen einen Entfremdungsprozess, der auch vorm Fußball nicht Halt macht. Braucht es eine Rückbesinnung?
Andreas Rettig: Dieses Phänomen der Entfremdung spielt überall eine Rolle, in den Kirchen, der Politik, dem Sport und der Wirtschaft. Wenn ich an Wirtschaft denke, muss ich auch den Siemens-Chef Joe Kaeser erwähnen, der sich zuletzt nachdenklich in Bezug auf den Rechtsruck in der Gesellschaft äußerte. Die meisten schweigen, weil sie vielleicht Angst haben, ein Imageproblem zu bekommen oder AfD-Wähler unter ihren Kunden zu verprellen.
Wir haben ein Grundsatzproblem in Bezug auf Glaubwürdigkeit. Das liegt meiner Meinung nach daran, dass wir viele Entscheidungsträger haben, die nur innerhalb der eigenen Vertragslaufzeit denken. Der Politiker denkt in Wahlperioden und möchte wiedergewählt werden. Der Wirtschaftskapitän lässt sich vom Shareholder-Value-Gedanken leiten und trifft Entscheidungen, die nur kurzfristig Erfolg versprechen. Und der Fußballmanager pfeffert im Winter Geld raus für Transfers, um ebenso kurzfristig Erfolg zu haben. Er weiß nämlich, wenn es sportlich schief geht, werde ich eh entlassen. Also riskiert er lieber alles.

„Wir haben ein Grundsatzproblem in Bezug auf Glaubwürdigkeit. Das liegt meiner Meinung nach daran, dass wir viele Entscheidungsträger haben, die nur innerhalb der eigenen Vertragslaufzeit denken.“ Andreas Rettig
Das ist natürlich eine Denke, die dazu führt, dass man letztlich auch Vertrauen verliert. Der zweite Aspekt, der mit Entfremdung einhergeht, hat mit der Sprache zu tun. Wenn ich sehe, wie junge Leute miteinander kommunizieren, wie sie miteinander umgehen, dann müssen Sie sich, wenn Ihnen diese Zielgruppe wichtig ist, im Kopf verändern. Da werden Sie mit den alten Schubladen und dem klassischen Managementsprech nicht mehr punkten können. Das ist in vielen Bereichen so.
Sie können es am Ende immer auf dieses Credo runterbrechen: Verantwortungsbewusstsein ist keine Sache von Schulbildung. Einem guten Manager muss man nicht sagen, wann er Haltung zu bewahren hat. Die Persönlichkeit ist heute entscheidend und daran ist verantwortungsvolles Handeln gekoppelt.
„Wir müssen davon wegkommen, uns immer über Umsatzzahlen zu definieren und die umsatzstärkste Liga in Europa werden zu wollen.“ Andreas Rettig

Wirtschaftsforum: Wagen Sie zum Abschluss noch einen Blick in die Zukunft. Wohin führte der Weg der Bundesliga?
Andreas Rettig: Die Frage nach der Positionierung des deutschen Profifußballs treibt uns um. Wir müssen davon wegkommen, uns immer über Umsatzzahlen zu definieren und die umsatzstärkste Liga in Europa werden zu wollen. Wir müssen unsere eigene DNA finden. Die wäre unter dem Aspekt nachhaltigste Liga, sozialste Liga, fanfreundlichste Liga zu sehen.
Wir haben zum Beispiel seit vier Jahren unsere Ticketpreise nicht erhöht, obwohl wir eine Auslastung von fast 100% haben. Wenn wir 19 Millionen Stadionbesucher in der 1. und 2. Liga in Deutschland haben, müssen wir uns Gedanken machen, wie die Leute besser und umweltfreundlicher zu den Spielen kommen. Was ist mit den Themen Lebensmittel? Wir haben Zehntausende von VIP und Logenpartner, was da an Lebensmitteln jeden Spieltag vernichtet wird. Wir gehen wir damit um? Wir haben hier auf dem Stadiongelände selbst Bienenvölker angesiedelt, um auf das Bienensterben aufmerksam zu machen. Wir sollten weg vom Wirtschaftsdiktat kommen und alternative Weg beschreiten.
Interview: Markus Büssecker | Fotos: Witters GmbH