Die Transformation des 21. Jahrhunderts – Kompliziertheit sollten wir abbauen, Komplexität müssen wir nutzen

5-teilige Serie mit dem österreichischen Wirtschaftswissenschaftler und europäischen Management-Vordenker Prof. Dr. Fredmund Malik

Wirtschaftsforum: Herr Professor Malik, Sie haben das Konzept der „Großen Transformation 2021“ aufgestellt. Bitte erläutern Sie kurz die Eckpunkte des Konzeptes.

Prof. Malik: Geschichtlich sind solche Transformationen im Westen mit großer Regelmäßigkeit alle paar 100 Jahre aufgetreten. In diesen Zeiten änderten sich die jeweiligen Gesellschaften grundlegend innerhalb von etwa 50 Jahren. Ihre Strukturen, die Lebensweisen und Werthaltungen, die Welt- und Menschenbilder, die Technologien und die Glaubensinhalte – alles änderte sich! Den Begriff «Große Transformation» wählte ich in meinen Publikationen als Referenz an drei große Wissenschaftler des 20. Jahrhunderts, die sich mit dem Transformationsthema befassten: An den Soziologen Karl Polanyi, an den Ökonomen Joseph Schumpeter, der für solche Perioden den Begriff «Schöpferische Zerstörung» prägte und an Peter F. Drucker, der Mann, der als erster die wirtschaftliche und gesellschaftliche Bedeutung von Management erkannte, jener organisierenden, lenkenden und verantwortenden gesellschaftlichen Funktion, und diese in mehr als 40 Büchern darstellte.

Wirtschaftsforum: Wann haben diese Transformationen stattgefunden und welche Neuerungen brachten Sie mit sich?

Prof. Malik: In groben Zügen begann in Europa die erste Transformation im 12. Jahrhundert, als die Städte entstanden, die deutsche Hanse sich zu einer Großmacht formierte, die gotische Bauweise entstand und die ersten weltlichen Universitäten gegründet wurden.

„Die aktuelle Große Transformation unserer Zeit habe ich GT21 genannt, die Transformation des 21. Jahrhunderts.“ Prof. Dr. Fredmund Malik
Prof. Dr. Fredmund Malik

Eine weitere Transformation begann um 1450 mit dem Buchdruck durch Gutenberg. Sie brachte die Entdeckung Amerikas, das neue heliozentrische Weltbild, die Renaissance und die Reformation, die beinahe zum Untergang der katholischen Kirche führte, und eine grundlegend neue Ordnung hervorbrachte. Sie endete mit dem 30-jährigen Krieg. Die dritte Transformation begann 1776 mit der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung und dem ersten industriellen Einsatz der Dampfmaschine, führte zur industriellen Revolution, der französischen Revolution, den Napoleonischen Kriegen, zum politischen Liberalismus und zu den anderen «-ismen», Sozialismus, Kommunismus und Kapitalismus. Die vierte Transformation brachte mit der ersten nicht-europäischen Wirtschaftsgroßmacht Japan den Schritt über die Grenzen Europas hinaus in die globale Dimension und um 1960 herum auch den ersten Computer. Die aktuelle Große Transformation unserer Zeit habe ich GT21 genannt, die Transformation des 21. Jahrhunderts. Ein früher Start war die Erfindung des Internets an der Forschungseinrichtung CERN in Genf und der erste Publikumsbrowser 1994 von Netscape, sowie im selben Jahr die Gründung von amazon. Apple gab es auch schon, sogar seit 1976, aber das erste IPhone kam erst 30 Jahre später, 2007, auf den Markt.

Wirtschaftsforum: Was ist das Wesentliche an der Transformation des 21. Jahrhunderts?

Prof. Malik: Das Wesentlichste an diesen Entwicklungen ist die Wissenschaft von der Systemkybernetik. Die Digitalisierung ist eine der Anwendungsformen von Systemkybernetik. Digitalisierung und meine Art von Management sind Zwillinge. Was die Digitalisierung für Computer ist, sind meine Managementsysteme für Organisationen - die Operating Systems für zuverlässiges Funktionieren.

Wirtschaftsforum: Was sind die Treiber dieser Transformation?

Prof. Malik: Diese aktuelle Transformation des 21. Jahrhunderts hat vier große Treiberkräfte. Sie mündet in die alles entscheidende fünfte Kraft, die aus dem vernetzten Zusammenwirken der anderen vier Treiber entsteht. Die vier Treiber sind die Digitalisierung, die weltweite Bevölkerungsstruktur, die Ökologie und die Ökonomie, die ihrerseits bereits mutiert ist zu einer Wissensökonomie – Wissen als Rohstoff, Wissen als Produktionsfaktor und Wissen als Produkt. Diese vier Treiber wirken zusammen und führen zum fünften treibenden Faktor, das ist die explosiv steigende Komplexität. Ich bezeichne die gegenwärtige Transformation auch als die Komplexitäts-Transformation. Die meisten scheuen vor Komplexität zurück und wollen sie reduzieren, weil sie diese mit Kompliziertheit verwechseln. Kompliziertheit sollten wir abbauen. Komplexität aber müssen wir nutzen. Komplexität ist der wichtigste und wertvollste Rohstoff, denn sie ist die Quelle für Intelligenz, für Vielfalt, für Innovation und Kreativität. Je mehr Vernetzung wir haben, desto mehr Komplexität haben wir. Komplexität ist auch der Rohstoff für Information und Kommunikation und für das Funktionieren von Organisationen. Sie ist der Grundstoff für Regulierung und Selbstregulierung, für Steuerung und Selbststeuerung und für Organisieren und Selbstorganisieren. Diese Eigenschaften finden wir in der Natur bei allen Lebewesen und bei den Ökosystemen. Die Komplexität von Organismen zeigt sich in ihren Nervensystemen, Sinnesorganen und Gehirnen. Diese «managen» selbstregulierend den Organismus. Alle höheren Funktionen resultieren dabei aus mehr Komplexität, wie der deutsche Biogenetiker, Carsten Bresch einmal sagte.

Prof. Dr. Fredmund Malik
„Komplexität ist der wichtigste und wertvollste Rohstoff, denn sie ist die Quelle für Intelligenz, für Vielfalt, für Innovation und Kreativität.“ Prof. Dr. Fredmund Malik

Wirtschaftsforum: Welchen Einfluss hat die COVID-19 Krise auf Ihr Konzept der Großen Transformation 2021? Hat das Konzept heute noch Bestand? Wie würden Sie es jetzt adaptieren?

Prof. Malik: Die Corona-Krise gehört mit zu dieser Transformation, war aber in dieser Art und im Verlauf nicht vorhersehbar. Man lernt seit ihrem Ausbruch täglich dazu. Es gehört mit zu allen Transformationen, dass sie viele Überraschungen bereithalten, und dass man ihren Verlauf im Voraus zwar in den Grundzügen, aber nur schwer in den Einzelheiten bestimmen kann. Corona führt zu einer enormen Beschleunigung der Verwendung von Remote-Formaten für die Kommunikation. Diese wären so oder so gekommen, aber deutlich langsamer, denn es hätte ja keinen unmittelbaren Zwang dazu gegeben. Jetzt aber, unter den riskanten Corona-Bedingungen, müssen wir das Video-Conferencing einsetzen, weil es dazu keine Alternative gibt. Es ist also eine Art Zwangs-Innovation. Viele mögen das nicht so gerne; viele hängen an den bisherigen Gewohnheiten. Aber da hilft alles nichts. Man muss sich der neuen Technologien bedienen. Positiv dabei ist, dass die Kunden und Geschäftspartner dies auch akzeptieren, weil es alle betrifft. Unter Normalbedingungen würden Kunden wohl weit mehr Widerstand leisten. Unter Corona-Bedingungen ist mit den neuen Techniken aber beiden geholfen. Die Grenze ist unsere eigene Lernfähigkeit. Ich kenne Außendienstorganisationen, die in der Corona-Zeit sogar mehr Umsatz machen als vorher. Die Verkäufer bereiten sich besser vor, man nimmt aufeinander Rücksicht, so gut es geht, und schon ist man im Geschäft.

„Ich kenne Außendienstorganisationen, die in der Corona-Zeit sogar mehr Umsatz machen als vorher. Die Verkäufer bereiten sich besser vor, man nimmt aufeinander Rücksicht, so gut es geht, und schon ist man im Geschäft.“ Prof. Dr. Fredmund Malik
Prof. Dr. Fredmund Malik

Wirtschaftsforum: Werden wir, wenn Corona vorbei ist, wieder zu alten Praktiken zurückgehen?

Prof. Malik: Vermutlich werden wir, auch wenn Corona vorbei ist, zu vielen vorherigen Praktiken nicht mehr zurückkehren. So ist es zum Beispiel gut möglich, dass wir zwar wieder das frühere Niveau der Urlaubsflüge erreichen oder sogar noch mehr. Für Geschäftsreisen werden wir aber genau überlegen, ob man sich wirklich persönlich treffen muss oder ob eine Remote-Session auch genügt. Auch überfüllte Züge, verstopfte Autobahnen, fehlende Parkplätze wird es vermutlich weniger geben. Vor rund 150 Jahren wurde das Telefon erfunden, ein Vorläufer von Video. Man braucht sich nur vorzustellen, wir hätten kein Telefon und müssten uns daher ständig treffen, wo ein Telefonat auch genügt.

Lesen Sie demnächst hier den zweiten Teil unserer 5-teiligen Serie mit Prof. Fredmund Malik.

Interview:

Manfred Brinkmann

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