„Zeit ist für uns ein Qualitätsfaktor“
Interview mit Paolo Tiefenthaler, Technischer Leiter und Önologe der Casale del Giglio

Die Geschichte von Casale del Giglio beginnt 1967 mit der Familie Santarelli – doch der Wendepunkt kam in den 1980er-Jahren, als Paolo Tiefenthaler nach dem Studium in Trient und San Michele all’Adige ins Latium kam. „Damals war der Weinbau in dieser Region wenig erforscht“, erinnert sich der technische Leiter und Önologe des Unternehmens. „Uns war schnell klar: Dieses Terroir hat Potenzial – man muss es nur verstehen lernen.“ Gemeinsam mit renommierten Institutionen aus ganz Italien startete das Unternehmen ein Projekt zur Erforschung von 57 Rebsorten – mit dem Ziel, die Sorten zu identifizieren, die am besten mit den besonderen klimatischen und geologischen Bedingungen harmonieren.
Heute zeigt sich: Der Mut zur Vielfalt hat sich ausgezahlt. Sorten wie Bellone, Viognier, Petit Manseng oder auch der internationale Tannat gedeihen prächtig in der Meeresnähe, auf sandigen, lehmigen oder vulkanischen Böden. Entscheidend ist nicht das Etikett, sondern die Ausdruckskraft der Traube im Dialog mit dem Ort.
Zeit als Qualitätsfaktor
In einer Branche, in der Geschwindigkeit oft mit Effizienz verwechselt wird, setzt Casale del Giglio auf Entschleunigung. „Für mich ist Zeit der entscheidende Qualitätsfaktor“, sagt Paolo Tiefenthaler. „Ich will Weine machen, die bleiben – nicht solche, die laut sind und schnell wieder verschwinden.“ Deshalb beginnt der Reifeprozess bei Casale del Giglio schon im Frühling – nicht erst zur Ernte. Die Bewässerung wird bereits ab April reguliert, damit die Pflanzen sich früh an die klimatischen Herausforderungen gewöhnen und aus eigener Kraft reifen können. „In heißen Gegenden ist das größte Geheimnis nicht die Reifung an sich, sondern die mäßige Geschwindigkeit des Prozesses“, erklärt der Önologe. „Wie ein Koch, der bei niedriger Temperatur gart.“ Diese Philosophie prägt auch den Ausbau in der Kellerei. Modernste Technik hilft, die natürliche Frucht zu bewahren – durch schonende Pressung, schnelle Verarbeitung und minimale Eingriffe. Auch hier ist Paolo Tiefenthaler überzeugt: „Wir arbeiten nicht gegen die Natur, sondern mit ihr. Technik darf nie dominieren – sie muss unterstützen.“
Experimentierfreude mit Sinn für Tradition
Trotz oder gerade wegen des tief verwurzelten Verständnisses für das eigene Terroir zeigt sich Casale del Giglio experimentierfreudig. Sei es das Projekt ‘Faro della Guardia’ auf der kleinen Insel Ponza, wo autochthone Rebsorten wie Biancolella in einem maritimen Mikroklima neu interpretiert werden, oder die Wiederbelebung historischer Weinberge in Amatrice, der ursprünglichen Heimat der Familie Santarelli. Dort wird auf über 800 m Höhe Pecorino angebaut – eine Sorte, die unter diesen extremen Bedingungen Weine von bemerkenswerter Klarheit, Frische und mineralischer Tiefe hervorbringt. „Diese Weine zeigen eine Reinheit, die man in Zeiten des Klimawandels immer seltener findet“, so Paolo Tiefenthaler. Hier ist es nicht nur die Natur, die inspiriert – es sind auch kulturelle, familiäre und emotionale Verbindungen, die den Anstoß für solche Projekte geben und ihnen eine besondere Tiefe verleihen. Dabei denkt Paolo Tiefenthaler bewusst nicht in Modeerscheinungen. Alkoholfreier Wein? Für den erfahrenen Önologen kein gangbarer Weg. „Wein ist ein Eingriff in die Natur – aber ein respektvoller. Wenn ich versuche, ihm das Wesentliche zu nehmen, verliert er seine Identität.“ Statt dem Zeitgeist hinterherzulaufen, verfolgt er konsequent einen anderen Ansatz: In jeder Ernte das Charakteristische des Jahrgangs und des Standorts herauszuarbeiten – nicht ein uniformes Produkt zu standardisieren, sondern ein individuelles Geschmacksbild zu bewahren.
Vision mit Verantwortung
Nachhaltigkeit ist bei Casale del Giglio kein Label, sondern Haltung. Zertifizierungen wie Equalitas oder ISO 22005 zeigen das Engagement, doch noch wichtiger sind die alltäglichen Entscheidungen. Viele Mitarbeiter sind seit Generationen Teil des Betriebs, die Reben wachsen in einem System, das Respekt vor Pflanze, Mensch und Umgebung lebt. „Wenn ich sage, ich will Nachhaltigkeit, dann meine ich auch kulturelle und soziale Verantwortung“, betont Paolo Tiefenthaler. Das Unternehmen beschäftigt rund 35 Mitarbeiter, bewirtschaftet 180 ha Weinberge und exportiert etwa 20% seiner Produktion – insbesondere nach Deutschland, in die USA, nach Kanada und Nordeuropa. Die Produkte sind international gefragt. Und doch bleibt der Fokus lokal: auf dem Boden, dem Klima, dem Charakter der Region. „Was mich nach 40 Jahren am meisten motiviert?“, schließt Paolo Tiefenthaler das Gespräch. „Dass ich immer noch lernen darf. Jeder Jahrgang ist anders, jedes Jahr birgt eine neue Geschichte.“ Und das bedeutet: Casale del Giglio bleibt in Bewegung – nicht aus Marketinggründen, sondern aus innerem Antrieb und dem Wunsch, dem eigenen Terroir jedes Jahr ein Stück näherzukommen.