Global lehren, lokal entwickeln
Interview mit Stefan Wisbauer, Geschäftsführer der Lecturio GmbH

Wirtschaftsforum: Herr Wisbauer, Lecturio wurde 2008 gegründet. Welche Entwicklungsschritte waren aus heutiger Sicht entscheidend für den Erfolg?
Stefan Wisbauer: Die Gründer hatten die Vision, eine große Plattform für digitale Hochschulbildung zu schaffen, ähnlich wie Coursera heute. Aus Deutschland heraus gestaltete sich das jedoch schwierig. Die Digitalisierungsbereitschaft war nicht die größte und als Microsoft das Projekt sponsern wollte, hieß es: „Wenn das Microsoft-Logo in der Ecke steht, ist die Lehre nicht mehr frei.“ Wir mussten einen Ansatz finden, der Sinn macht. Das war dann die Examensvorbereitung für Juristen, unser erstes B2C-Produkt. Später kamen Medizin und Steuerrecht dazu. Als ich 2013 ins Unternehmen kam, bauten wir ein institutionelles Geschäft auf. Heute sind wir zu 85% institutionell aufgestellt: ein großer Vorteil in Zeiten von KI und veränderten Online-Suchvolumina.
Wirtschaftsforum: Was führte zur Fokussierung auf den Medizinbereich und zur Internationalisierung?
Stefan Wisbauer: Die entscheidende Weichenstellung kam 2016. Medizin bot sich an, weil sie als Wissenschaft global überall gleich ist. Anatomie ist Anatomie, Physiologie ist Physiologie. Wir richteten uns auf den amerikanischen Markt aus und produzierten mit Dozenten der Universitäten Harvard, Yale, Hopkins und Stanford den umfassendsten Videopool für die Medizinausbildung. Inzwischen haben wir über 12.000 Videos, die sich an angehende Ärzte und Pflegekräfte richten. Die meisten davon haben wir hier in Leipzig produziert. Die Dozenten wurden von Los Angeles hierher geflogen, um im Studio aufzuzeichnen.
Wirtschaftsforum: Was unterscheidet Lecturio von anderen Anbietern?
Stefan Wisbauer: Wir haben uns bewusst differenziert. Die traditionellen Wettbewerber waren hauptsächlich auf Examensvorbereitung in Form von Multiple-Choice-Fragen fokussiert. Wir sagten: Wir machen Video first – hochwertige Videos zu allen Themen, erst danach Text und Fragen. Unsere Mitbewerber haben den Fokus auf dem Text; nur hin und wieder gibt es ein Video als ‘Beilage’ dazu. Wir sind sehr datenorientiert und evidenzbasiert und das nicht nur inhaltlich, sondern auch im Design der Liefermethoden. Die Lernforschung zeigt, dass Videos helfen, sich Sachen besser zu merken. Das ist ein wichtiges Verkaufsargument an Universitäten. Wir wurden von Time und Statista als Top 25 Global EdTech gerankt – die Nummer 1 in unserem Segment.
Wirtschaftsforum: Wie ist Lecturio heute international aufgestellt?
Stefan Wisbauer: Leipzig ist unser Headquarter, unsere Entwickler sitzen in Bulgarien. Das größte Team außerhalb von Leipzig ist in den USA hauptsächlich für Sales und Partner Success Management tätig. Darüber hinaus haben wir Mitarbeiter in Südamerika, im Nahen Osten, in Asien und auch in Afrika. Insgesamt sind wir rund 175 Mitarbeiter.
Wirtschaftsforum: Sie erwähnten die Low- and Middle-Income Countries – welche Rolle spielen diese Märkte für Lecturio?
Stefan Wisbauer: Diese Länder sind sehr interessant für uns. Sie haben eine junge Bevölkerung mit Entscheidungsträgern, die digitalisierungsoffen sind. Wir haben kommerzielle Kunden, aber auch Projekte mit der GIZ, dem Global Fund oder der Yale University. Ein Beispiel ist unser Ukraine-Projekt mit der DEG, der Deutschen Entwicklungsgesellschaft. Dort führen wir ein Projekt zum Thema Disaster Medicine durch. In Afrika gibt es einen massiven Mangel an Ausbildungskapazität. Mit digitalen Methoden können wir die globalen Mängel, die die WHO klar darlegt, deutlich effektiver adressieren.
Wirtschaftsforum: Welche Rolle spielt künstliche Intelligenz in Ihrer Strategie?
Stefan Wisbauer: KI ist heute extrem relevant. Für uns ist sie vor allem ein substanzieller Teil der Erfolgsgeschichte. Es geht nicht nur um Content-Erstellung, sondern um die Fähigkeiten des Systems. Jeder Lernende hat quasi einen KI-Assistenten, einen ‘sokratischen Tutor’. Wir unterstützen die Workflow-Prozesse der Fakultätsmitglieder mit KI sehr effektiv. Dazu haben wir starke Analytik und Lernalgorithmen. Wenn Sie sich etwas langfristig merken wollen, müssen Sie es mehrfach in größer werdenden Intervallen anschauen. Das System erinnert die Studierenden automatisch daran.
Wirtschaftsforum: Was ist Ihre Vision für die Zukunft von Lecturio?
Stefan Wisbauer: Es gibt noch viel Penetrationspotenzial, selbst in den USA, unserem größten Markt. Wir haben unser Angebot bereits ausgebaut: Wir haben bei den Ärzten angefangen, dann die Pfleger dazugenommen. Kürzlich haben wir uns erweitert: Mit SimTutor können wir Medical Assisting bedienen. Wir haben also die Pyramide nach unten ergänzt. Die Akquisition des New England Journal of Medicine hat uns nach oben in Richtung Residency-Programme gepusht, also in die Spezialisierungsphase im Krankenhaus. Damit haben wir unseren Zielmarkt deutlich vergrößert. Das kann noch weitergehen – Continuous Medical Education, akademisch validierte Zertifikate. Die Ausweitung in die Unterstützung der klinischen Praxis ist ein weiterer Schritt.













