„Die Digitalisierung wird den Fachkräftemangel lindern“
Interview mit Dr. Reinhard K. Sprenger, Management-Denker und Buchautor

Wirtschaftsforum: Herr Dr. Sprenger, es gibt viele Stimmen, die mittelständische Unternehmen als Leidtragende und Skeptiker der Digitalisierung sehen. Stimmt das wirklich?
Dr. Reinhard K. Sprenger: Im Mittelstand halten sich noch renitente Reste des gesunden Menschenverstandes. Und der argwöhnt zu Recht, dass sich mit der Digitalisierung beliebig Schaum schlagen lässt. Nimmt man aber den „Monitoring Report Wirtschaft digital 2017“ der Bundesregierung zum Maßstab, dann gibt es tatsächlich einen Digitalisierungsrückstand. Vor allem in den weniger dynamischen B2B-Branchen. Das Kostenparadigma und die Zielerreichung sind nach wie vor die Götter, denen man huldigt. Oder man hält die Digitalisierung des eigenen Betriebs schlicht für zu teuer. Auch die gute wirtschaftliche Lage trägt dazu bei: Die Auftragsbücher sind voll, die Arbeitsmärkte leer, die Gehälter hoch, die Inflation niedrig. Der Exportweltmeister zehrt von altem Ruhm. Man macht momentan mit dem alten Modell einfach noch zu viel Geld. Aber das wiegt in einer falschen Sicherheit. Mein Buch ist ein Weckruf, damit wir nicht eines nahen Tages abgefahrenen Zügen hinterherweinen.

„Die digitale Technik der neuen Welt fördert paradoxerweise das, was die industrielle Technik unterdrückte: den Menschen als Gestalter.“ Dr. Reinhard K. Sprenger
Wirtschaftsforum: Können Sie uns erklären, warum in der digitalisierten Wirtschaftswelt der Mensch ‒ und nicht die Technik ‒ an erster Stelle steht?
Dr. Reinhard K. Sprenger: Die industrielle Technik hat die alte Welt mechanisiert und standardisiert. Der Mensch war lediglich Lückenbüßer für Aufgaben, die sich nicht maschinell bearbeiten ließen. Insofern war er eigentlich nur geduldet, sollte arbeiten, nicht denken, und seine Individualität störte. Die digitale Technik der neuen Welt fördert paradoxerweise das, was die industrielle Technik unterdrückte: den Menschen als Gestalter. Nun wird der Mensch mit seinen spezifischen Fähigkeiten höher bewertet, mit seiner Intuition, seinem Fingerspitzengefühl, seiner Urteilskraft. Das Allgemeine und Effiziente tritt in den Hintergrund. Das Besondere und Effektive tritt in den Vordergrund. Also all das, was nur Menschen zu leisten vermögen. Technik ist der große Gleichmacher, Menschen machen den Unterschied.

„Das Spiel um die Zukunft wird an der Ideenfront entschieden. Technologie erzeugt keine Ideen; Ideen erzeugen Technologie.“ Dr. Reinhard K. Sprenger
Wirtschaftsforum: Führungskräfte sollen sich wieder ganz dem Kunden, der Kooperation, der Kreativität widmen. Was ist daran „radikal digital“?
Dr. Reinhard K. Sprenger: Alles Digitale beginnt analog – und endet auch dort. Was vordergründig als technologische Revolution beschrieben wird, ist also in Wahrheit ein sozialer Umbruch. Das nenne ich die Wiedereinführung des Menschen in die Unternehmen. Das ist das Radikale dieses Buches. Klingt paradox, ist es aber keineswegs. Digitalisierung bedeutet in ihrem Kern eben nicht die Macht der Maschinen und die Herrschaft der Algorithmen. Sondern zum Beispiel die Wiedereinführung des Kunden. Es geht darum, das ganze Unternehmen vom Kunden her zu denken. Mit ihm in Ko-Evolution zu treten. Digitalisierung verbindet dabei Individualisierung und Automatisierung auf verblüffende Weise. Dann geht es um die Wiedereinführung der Kooperation: Die Digitalisierung fordert heute von den Mitarbeitern ganz neue Formen der Zusammenarbeit. Sogar unternehmensübergreifend: Die Grenzen der Unternehmen öffnen sich. Und letztlich die Kreativität: Das Spiel um die Zukunft wird an der Ideenfront entschieden. Technologie erzeugt keine Ideen; Ideen erzeugen Technologie. Auch weil der Wertschöpfungsanteil des reinen Herstellens von Gütern schrumpft, hingegen Informationen, Forschung und Design bedeutender werden. Das sind die drei Ks, und jedes einzelne dieser drei Ks hat das Potenzial, das Unternehmen radikal zu transformieren.

„Man muss nicht vor jedem digitalen Unfug das Knie beugen. Manches davon scheint unkritisch der Mode geschuldet, manches ist mehr chic als praktisch.“ Dr. Reinhard K. Sprenger
Wirtschaftsforum: Ihr Buch ist ein „Survival Kit“ mit 111 Führungsrezepten, um die Digitalisierung erfolgreich zu überleben. Welche drei wichtigsten Rezepte geben Sie mit auf den Weg?
Dr. Reinhard K. Sprenger: Es wäre kontextblind, einige Rezepte zu den wichtigsten zu erklären. Wie und wo genau Sie starten, hängt ab von dem digitalen Reifegrad Ihres Unternehmens. Haben Sie noch keine oder nur wenig Digitalisierungserfahrung, starten Sie am besten mit Rezepten, die starke Kundenbeziehungen digital noch weiter stärken. Sind Sie hingegen schon digitalerfahren, dann sollten Sie zu Rezepten greifen, die wegräumen, was noch aus analogen Zeiten in die digitale Gegenwart ragt.
Wirtschaftsforum: Gelingt Wirtschaftsführern die Transformation leichter, wenn sie wissen, dass in digitalen Zeiten nicht alles Bestehende über Bord geworfen werden muss?
Dr. Reinhard K. Sprenger: Man muss nicht vor jedem digitalen Unfug das Knie beugen. Manches davon scheint unkritisch der Mode geschuldet, manches ist mehr chic als praktisch. Und oft vergisst man vor lauter Euphorie, ob das Neue zum Kontext und zur Herkunft der Firma passt. Aber man wird kaum an Institutionen festhalten können, die im Wesentlichen vor 150 Jahren erfunden wurden.

„Ein neuer Job in der Hochtechnologie schafft vier Stellen im Dienstleistungsbereich.“ Dr. Reinhard K. Sprenger
Wirtschaftsforum: Kann die Digitalisierung von morgen eigentlich die Probleme von heute lösen, beispielsweise den Fachkräftemangel?
Dr. Reinhard K. Sprenger: Die Massenfertigung hatte ja dazu geführt, dass die Arbeitsplätze immer maschinenähnlicher wurden. Nun werden diese Jobs auch von Maschinen erledigt. Wird man in hundert Jahren irgendwelchen langweiligen Bürojobs oder aufreibenden Über-Kopf-Arbeiten eine Träne nachweinen? Zudem werden neue, andere Aufgaben entstehen. Ein neuer Job in der Hochtechnologie schafft vier Stellen im Dienstleistungsbereich. Sehr viel mehr Menschen werden IT-Systeme pflegen und überwachen. Man wird sogar Arbeitsplätze aus Schwellenländern in die Industriestaaten zurückverlagern, weil ein intelligenter Einsatz der Mensch-Roboter-Kooperation die Billiglohnländer unattraktiv macht. Zudem kompensieren Gebürtigkeit plus Zuwanderung nicht die Sterblichkeit in Mitteleuropa. Und die geburtenstarken 1950er- und 1960er-Jahrgänge verlassen den Arbeitsmarkt. Es würden mehrere Millionen Arbeitskräfte fehlen, bliebe der Bedarf ähnlich hoch wie heute. Die Digitalisierung wird daher eher den zu erwartenden Fachkräftemangel lindern. Insgesamt können wir uns freuen.
Interview: Dr. Tanja Glootz
Fotos: www.sprenger.com