Über die konventionelle Hörgeräteversorgung hinausdenken
Interview mit Hans-Dieter Borowsky und Dipl.-Ing. Dr. Mark Winter, Geschäftsführende Gesellschafter der Unternehmensgruppe auric

Wirtschaftsforum: Herr Borowsky, warum haben Sie auric gegründet?
Hans-Dieter Borowsky: Ich war von 1978 bis 1981 an der HNO-Klinik in Münster beschäftigt und während dieser Zeit habe ich Dr. Theo Wesendahl nicht nur beruflich, sondern auch privat kennen und schätzen gelernt. Ich ließ mich 1983 in Rheine mit einer Hörakustikfiliale nieder, auch Dr. Wesendahl eröffnete dort eine Praxis. Gemeinsam hatten wir die Idee eine Hörgeräteversorgung zu realisieren, die nicht wie in der Vergangenheit die Gehörgänge komplett verschließt. Um das zu erreichen, wollten wir einen künstlichen Gehörgang legen. Das hat bis 1995 gedauert, als wir ganz klar formulierten: Wir gründen auric mit dem Ziel der Entwicklung und Vermarktung eines teil-implantierbaren Hörsystems. Es trat damals schon eine US-Firma mit Interesse am Kauf unseres eingetragenen Patents an uns heran. Wir entschlossen uns am Ende, den Weg selbst zu gehen. Das war die Geburtsstunde von auric.
Wirtschaftsforum: Die Entwicklung von auric ist seitdem maßgeblich durch Ihr Engagement in Wissenschaft und Forschung geprägt. Warum ist Ihnen das so wichtig?
Hans-Dieter Borowsky: Ich denke einfach immer über die konventionelle Hörgeräteversorgung hinaus. Da gab es jahrelang keinen Fortschritt. In letzter Zeit ändert sich das durch die digitalen Möglichkeiten wie Bluetoothverbindungen über das Smartphone, mit denen sich die Fernprogrammierung von Hörgeräten durchführen lässt. Ein weiteres Beispiel ist Telecare, die unter anderem die Nachsorge über einen Ansprechpartner via Chat am Bildschirm umfasst. Gerade in letzterer sehe ich die Zukunft. Es wird nicht mehr notwendig sein, dass der Kunde fünf Mal beim Hörakustiker vorbeikommt, das Gerät wird heutzutage einmal angepasst und zwischendurch wird man durch Telecare mit einer App unterstützt. Das wird ein Paradigmenwechsel für die Branche der Hörakustiker sein. Da wird sich einiges ändern und wir wollen unbedingt vorweg gehen!
Es wird nicht mehr notwendig sein, dass der Kunde fünf Mal beim Hörakustiker vorbeikommt, das Gerät wird heutzutage einmal angepasst und zwischendurch wird man durch Telecare mit einer App unterstützt. Hans-Dieter Borowsky

Mark Winter: Für mich war dieser Aspekt einer der wesentlichen Gründe 2004 zu auric zu wechseln: Nämlich um die Möglichkeit zu haben, wissenschaftlich aktiv zu sein. Üblicherweise fällt das bei einem Wechsel in die Industrie komplett weg. Hier war von Beginn an klar, dass wir Wissenschaft und Forschung Zeit einräumen. So arbeiten wir mit der Medizinischen Hochschule Hannover, der Universitätsklinik Tübingen oder dem Fraunhofer-Institut zusammen. So gelingt es uns als Unternehmen über den Tellerrand hinauszuschauen.
Wirtschaftsforum: Inwiefern spiegelt die Hörkontaktklinse genau dieses Selbstverständnis wider?
Mark Winter: Die Hörkontaktlinse ist ein komplett neuer Ansatz, den wir mit dem Mannheimer Start-up Vibrosonic umsetzen. Da sprechen wir nicht nur von innovativer, sondern auch disruptiver Technologie. Sie hat das Potenzial langjährig bestehende Technik zu ersetzen. Den Schallwandler, den wir in Hörgeräten heute verwenden, gib es seit 80 Jahren im Hifi-Bereich nicht mehr. Der einzige Vorteil der alten Technik im Hörgerät: sie ist energieeffizienter. Damit Laufzeiten von etwa einer Woche mit Batterie erreicht werden, wird „schlechtere“ Klangqualität in Kauf genommen. Die Hörkontaktlinse, die direkt auf das Trommelfell aufgesetzt wird, trägt zu einer erheblichen Verbesserung in diesem Bereich bei und ist gleichermaßen praktisch „unsichtbar“ für den Träger.

Die Hörkontaktlinse ist ein komplett neuer Ansatz, den wir mit dem Mannheimer Start-up Vibrosonic umsetzen. Da sprechen wir nicht nur von innovativer, sondern auch disruptiver Technologie. Mark Winter
Wirtschaftsforum: Wie haben Sie das Problem der Energieversorgung gelöst?
Mark Winter: Der von uns verwendete Schallwandler benötigt einfach weniger Energie als bisher. Die Hörkontaktlinse soll in zwei Versionen stufenweise eingeführt werden. In der Endversion ist eine integrierte Mikrobatterie vorgesehen, die mindestens einen Tag Laufzeit gewährleisten soll. Ab 2019 planen wir die klinischen Studien zur Erreichung der CE-Zulassung zu starten. Für das Frühjahr 2020 peilen wir die weltweite Vermarktung an.
Wirtschaftsforum: Innovation zeigt sich auch in Ihren unterschiedlichen Vertriebswegen. Wie kam es zu dieser breiten Aufstellung?
Hans-Dieter Borowsky: Eines meiner großen Themen ist der „Verkürzte Versorgungsweg“. Dabei arbeiten wir heute mit über 300 HNO-Praxen in Deutschland zusammen. Da ist mein Ziel, irgendwann flächendeckend alle Versicherten erreichen zu können. Wir möchten die audiologische Kompetenz der HNO-Ärzte erhalten und diese Versorgung begleiten. Das war schon immer unser Anspruch. Daraus hat sich der „Verkürzte Versorgungsweg“ für konventionelle Hörgeräte entwickelt, der unter der Bezeichnung auric direct dort läuft. Dazu kommen als Geschäftsbereiche auric Hörgeräte, das sind unsere Fachgeschäfte, auric Hörimplantate, dazu gehören Nachsorge und Service sowie auric 24, unser Onlinehandel. Wobei letztgenannte Plattform keine Hörgeräte, sondern Hörverstärker bereithält.
Eines meiner großen Themen ist der „Verkürzte Versorgungsweg“. Dabei arbeiten wir heute mit über 300 HNO-Praxen in Deutschland zusammen. Da ist mein Ziel, irgendwann flächendeckend alle Versicherten erreichen zu können. Hans-Dieter Borowsky

Mark Winter: Es ist einfach so, dass wir als Menschen unterschiedliche Wege gehen, um Produkte einzukaufen. Jemand fühlt sich bei seinem HNO-Arzt wohl und möchte dort sein Hörgerät erwerben. Der nächste zieht das Gespräch abseits von der Praxis im Fachgeschäft vor und jüngere Menschen informieren sich direkt online. Für alle Interessenten wollen wir ein Angebot bereithalten.
Wirtschaftsforum: auric hat zuletzt die Filiale Nummer 78 eröffnet, wie groß wollen Sie mit auric noch werden?
Hans-Dieter Borowsky: Die erste Überlegung war es von 2009 an 50 Standorte zu eröffnen. Das hatten wir bis 2013/14 erreicht. Diese Entwicklung steht für das schnellste organische Wachstum eines Unternehmens in der Hörakustikbranche. Dann gab es eine gewisse Phase der Konsolidierung. Ende 2014 haben wir in der Gesellschafterversammlung beschlossen, dass es weiter gehen soll. Es gibt in Deutschland noch viele weiße Flecken und auch Kliniken haben uns direkt angesprochen, ob wir nicht in deren Nähe zur Nachsorge ziehen wollen. Der nächste Schritt waren 75 Niederlassungen und aktuell steht die 100 als Zielmarke im Raum. Das ist eine wichtige Zahl, die man genau betrachten muss.
Wirtschaftsforum: Was genau meinen Sie damit?
Hans-Dieter Borowsky: Wenn wir auf 100 Filialen wachsen würden, dann wären wir der größte Anbieter in der Branche nach den bekannten Filialbetrieben wie Kind oder Amplifon. Das wäre gleichbedeutend mit Rang 5 in Deutschland. Darüber hinaus braucht es eine andere Unternehmensstruktur. Da kann man meiner Meinung nach allerdings nicht mehr dicht genug an den Menschen sein und vor allem unser Konzept der Hörimplantatnachsorge leidet darunter. Es gilt, mit 100 Standorten den Marktanteil zu behaupten und die Expansion auf Nachsorgekompetenz in den Filialen zu legen.
Wirtschaftsforum: Bleibt abschließend die Frage, ob es jemals möglich sein wird, das Gehör komplett zu ersetzen. Wie ist Ihre Einschätzung dazu?
Mark Winter: Das Ohr ist ein hochkomplexes Organ des menschlichen Körpers. Dabei sind Hörgeräte eine symptomatische Behandlung, wenn das Innenohr geschädigt ist. Momentan geht es mit einem Cochlea-Implantat schon relativ gut, das Gehör zu ersetzen, durch elektrische Stimulation wird der Hörnerv angeregt. Kinder, die taub geboren werden und mit einem solchen Implantat direkt versorgt werden, können einen klaren Spracherwerb erwarten und ganz normal in die Schule integriert werden. Es ist vorstellbar, dass das Gehör irgendwann komplett ersetzt werden kann.