Je mehr Betonung, dass der Mensch im Mittelpunkt steht, desto verdächtiger sind die Firmen

Interview mit Dipl. Psych. Madeleine Leitner, Karriereberaterin und Coach

Wirtschaftsforum: Frau Leitner, als Karriereberaterin helfen Sie oft Menschen, die beruflich in eine Sackgasse geraten sind. Wie können solche Sackgassen aussehen, und was können Sie jemandem, der dort wieder herauskommen will, generell raten.

Madeleine Leitner: Auslöser für den Beratungswunsch sind meistens die mehr oder weniger ausgeprägte Unzufriedenheit der Klienten. Diese besteht manchmal latent schon länger, wird aber auch manchmal durch eine externe Krise (Mobbing, Jobverlust, Burnout) ausgelöst. Gelegentlich kommen auch Menschen zu mir, die sich noch verbessern möchten, aber die sind eher selten. Meine Erfahrung über die vielen Jahre und Tausende von Menschen, die ich betreut habe hinweg ist, dass man aus Krisen am meisten lernen kann. Was zunächst schlimm und ausweglos aussieht, ist aus der Retrospektive meistens ein guter Anlass, sich auch einmal grundlegendere Gedanken zu machen und dabei auch eine Art „Großputz“ zu machen. Oft werden im Rahmen von Krisen auch biografisch und psychologisch bedingte Handicaps deutlich, die dann endlich erkannt und bearbeitet werden können.

Madeleine Leitner
„Meine Erfahrung über die vielen Jahre und Tausende von Menschen, die ich betreut habe hinweg ist, dass man aus Krisen am meisten lernen kann.“ Madeleine Leitner

Wirtschaftsforum: Viele Firmen propagieren, dass bei ihnen der Mensch im Mittelpunkt steht. Wie sieht es aus Ihrer Erfahrung mit der praktischen Umsetzung dieses Anspruchs aus und was hat sich auf diesem Gebiet in neuerer Zeit getan?

Madeleine Leitner: Meine Erfahrung: je mehr Hochglanz oder Betonung, dass der Mensch im Mittelpunkt steht, desto verdächtiger. Firmen, bei denen wirklich der Mensch im Mittelpunkt steht, sind meistens wesentlich unprätentiöser, weil das dort eigentlich eine Selbstverständlichkeit ist, die man nicht aufplustern muss. Ich kenne Firmen, von denen ich vor einiger Zeit fünf Klienten gleichzeitig betreut habe, weil die Mitarbeiter regelrecht gepiesackt wurden. Heute sehe ich wieder Plakate an Unis, dass dort händeringend junge Leute gesucht werden – zu angeblich total humanen Bedingungen… Dass Firmen wieder „netter“ und „humaner“ zu ihren Mitarbeitern sind, ist meistens nur der Not geschuldet, weil es immer weniger junge Leute gibt, die sich freiwillig piesacken lassen.

„Dass Firmen wieder „netter“ und „humaner“ zu ihren Mitarbeitern sind, ist meistens nur der Not geschuldet, weil es immer weniger junge Leute gibt, die sich freiwillig piesacken lassen.“ Madeleine Leitner
Madeleine Leitner

Wirtschaftsforum: Sie haben Psychologie studiert, arbeiteten dann als Psychotherapeutin und danach als Personalberaterin in der Wirtschaft, bevor Sie auf die andere Seite wechselten – nämlich die des „Personals“, indem Sie zur Beraterin des Arbeitnehmers wurden. Was hat Sie zu diesem Wechsel bewogen?

Madeleine Leitner: Ich hatte schon immer sehr viele Interessen und nach dem Abitur dementsprechend ungefähr 100 Berufswünsche, vom Städteplaner bis zum Astronauten. Selbst als Psychologin bin ich nie dem geraden Weg gefolgt und auch dort ein Exot. Durch diesen ungewöhnlichen Weg hatte ich aber Gelegenheit, mich sehr intensiv mit den jeweiligen Perspektiven von Menschen und von Firmen zu beschäftigen. Im Nachhinein hat sich das sehr glücklich zu meinem jetzigen Beruf zusammengefügt. Ich würde auch heute natürlich Firmen betreuen, die es wagen, wie meine Klienten ehrlich und intensiv in den Spiegel zu schauen, um wirklich an sich zu arbeiten. Leider gibt es davon nicht so viele, weil gar kein Interesse besteht, an den eigentlichen Themen zu arbeiten. Es ist auch für Berater wie mich ein großes Privileg, sich nicht verbiegen zu müssen. Ich bin noch nie ein Typ gewesen nach dem Motto: „wasch mich, aber mach mich nicht nass“. Pseudo-Beratung für Firmen, die dann am eigentlichen Thema vorbeigeht, muss und möchte ich nicht anbieten.

Madeleine Leitner
„Pseudo-Beratung für Firmen, die dann am eigentlichen Thema vorbeigeht, muss und möchte ich nicht anbieten.“ Madeleine Leitner

Wirtschaftsforum: Was muss sich Ihrer Meinung nach im Verhältnis von Arbeitnehmern und Arbeitgebern grundsätzlich ändern, und wo sehen Sie dabei die Politik in der Pflicht?

Madeleine Leitner: In der heutigen Gesellschaft dominiert generell eine ausgeprägte Ego-Haltung, und zwar von beiden Seiten. Alle schauen nach den eigenen Vorteilen, nach dem Motto: „Was habe ich von dieser Person/dieser Firma?“, ganz im Sinne des Homo oeconomicus. Dass es am Arbeitsplatz auch um soziale Wesen geht, wird oft vergessen. Dabei sind viele Menschen auch intrinsisch motiviert, grundsätzlich hilfs- und kompromissbereit und schauen nicht immer nur nach ihrem eigenen Vorteil. Leider haben wir in der Politik auch unsinnige Spielregeln, Feindbilder und überholte Rituale.

„In der heutigen Gesellschaft dominiert generell eine ausgeprägte Ego-Haltung, und zwar von beiden Seiten.“ Madeleine Leitner
Madeleine Leitner

Wirtschaftsforum: Welchen Anspruch haben Sie selbst an Ihren Beruf, was motiviert Sie? Und wo geraten Sie manchmal an Ihre Grenzen?

Madeleine Leitner: Ich lerne jeden Tag dazu, kann meinen Klienten in wesentlichen Fragen ihrer Lebensplanung helfen und hoffe, damit auch mit meinen Mitteln einen gesellschaftlichen Beitrag zu leisten, um die Welt ein kleines bisschen besser zu machen. Die Menschen, die den Weg zu mir finden, sind nämlich oft sehr klug und begabt und noch dazu sehr werteorientiert. Da meine Tätigkeit mir selbst auch so große Freude macht, fällt es mir aber schwer, Klienten auch mal zu vertrösten. Abgesehen davon bin ich bekennender Workaholic, der Leidensdruck ist daher übersichtlich.

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