Raus aus dem Ruhestand: Wie Senior Talents Unternehmen helfen können
Interview mit Klaudia Bachinger, CEO und Gründerin von WisR

Wirtschaftsforum: Sie vermitteln sogenannte Senior Talents trotz Renteneintritt in Jobs. Ist das ein Modell, das in Zukunft zur Pflicht für uns Arbeitnehmer wird, um Rente zu bekommen?
Klaudia Bachinger: Tatsächlich denke ich, dass der demografische Wandel nach dem Klimawandel die zweitgrößte Herausforderung unserer Gesellschaft ist. Wir leben alle länger und bleiben gleichzeitig immer jünger. Zum Beispiel hat ein 60-jähriger Mensch heute das biologische Alter eines 40-jährigen von vor 100 Jahren. Damit ist es absurd, Menschen mit Anfang 60 aus dem Arbeitsmarkt zu drängen und sie in den Zwangsruhestand zu schicken. Es ist also keine Pflicht für uns Arbeitnehmer, es ist eine Chance! Der Mensch möchte eine Aufgabe im Leben haben, etwas gestalten, mit anderen Menschen interagieren und sich weiterentwickeln – das ist auch im hohen Alter noch so.

„Der Mensch möchte eine Aufgabe im Leben haben, etwas gestalten, mit anderen Menschen interagieren und sich weiterentwickeln – das ist auch im hohen Alter noch so.“ Klaudia Bachinger
Wirtschaftsforum: Per Matching-Tool bringt WisR ältere und jüngere Generationen zusammen. Wie kommt ein Match bei Ihnen zustande?
Klaudia Bachinger: Die Senior Talents erstellen bei der Anmeldung in einer Kombination aus Freitext und ‘Tags’ einen Lebenslauf. Diese eingetragenen Daten werden mit Jobanforderungen der Firmen gematched. Damit sich beide Seiten finden, gibt es zwei Möglichkeiten: Senior Talents können sich bei Firmen bewerben, und Firmen können proaktiv im Pool nach Menschen suchen und diese kontaktieren. Und, natürlich arbeiten wir auch an einem intelligenten Algorithmus, der lernen soll, wonach die Senior Talents und Firmen suchen.
Wirtschaftsforum: Bisher sind Sie in Österreich und Deutschland aktiv. Wie ist Ihre Einschätzung, lässt sich dieses Modell europaweit gegen Fachkräftemangel einsetzen?
Klaudia Bachinger: Absolut. Da wir eine englische Website haben, bekommen wir auch bereits Anfragen aus Ländern wie Rumänien, Ungarn, Tschechien, Bulgarien, aber auch Spanien, Italien, Schweiz, Israel und UK. Ich sehe vor allem im Osten ein riesiges Potenzial, da hier massenweise junge Fachkräfte in den Westen abwandern und Firmen kaum noch Arbeitskräfte finden. Über Europa hinaus betrifft der Arbeitskräftemangel Länder, die eine starke wirtschaftliche Entwicklung hingelegt haben wie Mexiko, Russland, Südkorea und Brasilien, am härtesten.
„Der Mensch hat in jeder Lebensphase Fähigkeiten, die besonders in den Vordergrund treten.“ Klaudia Bachinger

Wirtschaftsforum: Was bringen Senior Talents mit, das Berufseinsteiger (noch) nicht haben?
Klaudia Bachinger: Der Mensch hat in jeder Lebensphase Fähigkeiten, die besonders in den Vordergrund treten. Während wir in unserer Jugend eine gewisse Naivität und Mut zum Ausprobieren haben, werden wir mit zunehmendem Alter vor allem effizienter. Lebenserfahrung bedeutet ja, viele Situationen bereits erlebt und verarbeitet zu haben, daher sind Senior Talents besser darin, komplexe Zusammenhänge zu verstehen und Verhaltensmuster zu erkennen. Das ist besonders im Umgang mit Kunden, in Sales- und Verhandlungsgesprächen, aber auch bei Prozessoptimierung oder Qualitätssicherung von großem Vorteil. Die langjährige Expertise im jeweiligen Fachbereich kommt dann noch on top.
Wirtschaftsforum: In welche Berufe haben Sie Rentner bisher am häufigsten vermittelt?
Klaudia Bachinger: Unsere Senior Talents werden derzeit vor allem in den Bereichen Vertrieb, Kundenservice und Empfang, Buchhaltung, Lohnverrechnung und Controlling, aber auch im technischen Bereich wie zum Beispiel für Anlagenwartung gesucht. In vielen großen Konzernen werden erfahrene Mitarbeiter oft im Bereich Qualitätssicherung und -management, Prozessoptimierung oder Business Development eingesetzt. Ich fände es darüber hinaus sehr spannend, mehr Senior Talents in Innovationsprojekten und bei der Entwicklung und Vermarktung neuer Produkte einzusetzen. Leider gibt es in Deutschland noch zu wenige Innovationsabteilungen, die einen inklusiven Zugang pflegen. Das ist eigentlich sehr verwunderlich, wenn man bedenkt, dass die Generation 55+ die kaufkräftigste Zielgruppe ist und großes Interesse an neuen innovativen Services und Produkten hat.
Wirtschaftsforum: Denken Sie einmal viele Jahre weiter, welchen Beruf würden Sie gerne als Rentnerin ausüben?
Klaudia Bachinger: Ha! Diese Frage wurde mir noch nie gestellt. Ich würde wohl bis an mein Lebensende unternehmerisch tätig sein und auch mit 90 noch an innovativen Lösungen arbeiten. Ich hätte auch bestimmt großen Spaß daran, jüngere (oder gleichaltrige) Menschen zu unterrichten und eventuell sogar in die Bildungspolitik zu gehen.
Interview: Vera Gaidies | Fotos: WisR