So schnell wie möglich raus aus dem Bremser-Biotop!
Interview mit Prof. Dr.-Ing. Evi Hartmann, Inhaberin des Lehrstuhls für Betriebswirtschaftslehre, insbesondere Supply Chain Management, an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg

Wirtschaftsforum: Frau Hartmann, Ihre jüngste Publikation sorgt für gehörig Wirbel. Es gibt Applaus und Ablehnung zugleich. Sind Sie überrascht, wie viele Menschen ihren „Arsch hochbekommen haben“ und sich an der Diskussion zu Ihren Thesen beteiligen?
Evi Hartmann: Mehr erfreut als überrascht. Mir war von vorne herein klar, dass ich mit dem Buch ein Tabu breche und dass der Tabubruch heftige Diskussionen auslösen wird. Ich freue mich also: Je breiter die Diskussion, umso besser. Eine Diskussion anzustoßen, die dann keiner führt, bringt uns nicht weiter – und weiter wollen wir ja kommen. Das Problem, dass Menschen Leistung vermeiden, obwohl sie keineswegs von der Arbeit überfordert oder davon überlastet sind, besteht schon viel zu lang.

„Die großen Herausforderungen dieser Tage meistern wir nicht mit angezogener Handbremse.“ Evi Hartmann
Wirtschaftsforum: In der Einführung schreiben Sie über das „Bloß nicht überarbeiten“-Phänomen. Inwiefern würden Sie der These zustimmen, dass diese Haltung ein typisches Merkmal von Wohlstandsgesellschaften ist?
Evi Hartmann: Die These trifft es genau. In einer Gesellschaft, in der Menschen täglich um das Nötigste kämpfen müssen, kann es sich keiner leisten, eine ruhige Kugel zu schieben. Wobei diese „Mach mal halblang, Alter!“-Einstellung auch den Wohlstandsgesellschaften nicht guttut: Die großen Herausforderungen dieser Tage meistern wir nicht mit angezogener Handbremse. Wir befreien die Meere nicht vom Plastikmüll, retten das Weltklima nicht und wir bewältigen vor allem die digitale Transformation nicht schnell und tiefgreifend genug, indem viele von uns unter ihren Möglichkeiten bleiben. Ganz zu schweigen vom Wohlergehen jedes einzelnen: Wer sich lieber einen schlanken Fuß macht und Leistung als etwas grundsätzlich zu Vermeidendes ansieht, bremst seine eigene Entwicklung aus – gesund ist das nicht. Glücklich macht es auch nicht.
Wirtschaftsforum: Besonders deutliche Worte finden Sie für die Pseudo-Elite. Was verstehen Sie darunter und kann eine solche „Elite“ überhaupt wirtschaftlich und politisch in die Zukunft führen?
Evi Hartmann: Pseudo-Elite sind jene, die viel fordern und wenig leisten – obwohl sie von ihren Fähigkeiten und Potenzialen her viel mehr leisten könnten. Und obwohl sie objektiv betrachtet nicht unter Arbeitsüberlastung leiden. Sie leisten weniger als andere und als sie könnten, halten sich aber für etwas Besseres und gebärden sich auch so. Die Pseudo-Elite kritisiert und marginalisiert auch ständig die echte Leistungselite. Sie weiß es ständig besser, kann und macht es aber nicht besser. Natürlich sollte jemand, der lieber bremst statt leistet, kein Land, kein Ministerium, kein Unternehmen und keine Familie führen. Das Problem ist: Die Pseudo-Elite tut es leider allzu oft! Mit den bekannten Folgen. Schauen Sie sich um: Keines der aktuellen Probleme vom Dieselskandal bis zur Politikverdrossenheit wäre so gravierend wie es derzeit ist, wenn wirklich alle das leisten würden, was sie leisten könnten.
„Natürlich sollte jemand, der lieber bremst statt leistet, kein Land, kein Ministerium, kein Unternehmen und keine Familie führen. Das Problem ist: Die Pseudo-Elite tut es leider allzu oft!“ Evi Hartmann

Wirtschaftsforum: „Work-Life-Balance“ scheint der neue Gral des Arbeitslebens zu sein. Wie definieren Sie diesen Begriff?
Evi Hartmann: Nicht so, wie ihn die Mode derzeit definiert: Work vs. Life; kurz: Arbeit als so weit wie möglich zu Vermeidendes. Für mich bedeutet Work-Life-Balance: Work und Life besser integrieren. Das heißt: Einerseits leisten, was uns voranbringt und Spaß macht, und andererseits für genügend Ausgleich und Erholung sorgen in Familie und Freizeit. Ich habe das nicht erfunden, doch ich kann mich nicht vor der Tatsache verschließen, dass Arbeit nun mal zum Leben gehört. Selbst für jene, die ihre Arbeit nicht nur subjektiv, sondern auch objektiv überfordert – und das sind nicht wenige – ist „weniger Arbeit“ keine Lösung. Die Lösung ist: Anders arbeiten, smarter, besser organisiert, digitalisiert, abwechslungsreicher, authentischer arbeiten.
Wirtschaftsforum: Eine letzte Frage: „Leistung macht einsam“ heißt es in Ihrem Buch. Kennen Sie die beschriebene Einsamkeit aus eigener Erfahrung?
Evi Hartmann: Aktuell glücklicherweise nicht. Ich arbeite erfreulicherweise an einem Lehrstuhl, an einer Uni und mit vielen Forschungspartnern aus der Wirtschaft, die wie ich die Dinge vorantreiben wollen und Freude daran haben. Aber das war nicht immer so. Jede und jeder von uns arbeitet irgendwann irgendwo, wo Kollegen sich abseilen, Kolleginnen sich gegenseitig die Ergebnisse streitig machen, wo Chefs nicht das leisten, was sie von anderen fordern. Smarte Karriere bedeutet: So schnell wie möglich aus so einem Bremser-Biotop rauszukommen, um so arbeiten zu können, dass es Spaß macht, persönliches Wachstum fördert und die Welt ein wenig besser macht.
Interview: Markus Büssecker Fotos: © Kaletsch Medien GmbH; © FAU; © Campus Verlag