„Das ganze Konzept Führung ist reif für eine Redefinition“
Interview mit Managementdenker und Bestseller-Autor Reinhard K. Sprenger

Das Interview führte: Manfred Brinkmann
Wirtschaftsforum: Herr Sprenger, ist der bevormundende Führungsstil in deutschen Unternehmen noch weiter verbreitet als viele glauben?
Reinhard K. Sprenger: In den Unternehmen gibt es sehr viele Instrumente und Strukturen, die man für „normal“ hält, die sogar mitunter ausgesprochen menschenfreundlich daherkommen. Die aber den Menschen auf verdeckte Weise entmündigen und infantilisieren. Und die damit den Anstand verletzen. Insofern hat die Bevormundung sich nur netter maskiert.
Wirtschaftsforum: Schadet ein Führungsstil, der die Mitarbeiter einengt, nachweislich dem wirtschaftlichen Erfolg?
Reinhard K. Sprenger: Ich bin skeptisch, ob man wirtschaftlichen Erfolg ursächlich erklären kann. Um erfolgreich zu sein braucht es auch viel Zufall, viel Glück. Ich hege hingegen keinen Zweifel, dass hohe Freiheitsgrade und eine unternehmerische Einstellung der Mitarbeiter den Erfolg wahrscheinlich machen. Und zukünftig noch viel wichtiger werden. Wir sollten daher die Initiative der Mitarbeiter fördern, nicht ihre Konformität.
Wirtschaftsforum: Fällt Ihnen dazu ein aktuelles Beispiel ein?
Reinhard K. Sprenger: Am Beispiel VW können wir uns aktuell anschauen, wie sehr der gesunde Menschenverstand durch Boni ausgehebelt wird. Erst beschließt der Aufsichtsrat einen Bonus für die Vorstände. Weil die offenbar nicht wollen, was sie tun sollen. Ihren Job nämlich. Oder ihn irgendwie besser tun sollen: motivierter, schneller, erfolgreicher. Dann beschließen die Vorstände einen Bonus für die Mitarbeiter. Weil die offenbar nicht wollen, was sie tun sollen. Ihren Job nämlich. Oder ihn irgendwie besser tun sollen: Ziele erreichen, die mit legalen Mitteln nicht zu erreichen sind. Deshalb wird die Abgastechnologie manipuliert. Dann beschließt die Politik einen Bonus für die Bürger. Weil die offenbar nicht wollen, was sie tun sollen. Nämlich Elektroautos kaufen. Verdeckt beschließt die Politik damit wieder einen neuen Bonus für die VW-Vorstände. Mit Steuergeld. So finanziert der Bürger ein System der Korruption. Und seine eigene Korrumpierung gleich mit.
Wirtschaftsforum: Sie fordern nun ein Umdenken in Chefetagen und Büros, plädieren für mehr Selbstbestimmung der Mitarbeiter, zeichnen in Ihrem neuen Buch das Bild vom „anständigen Unternehmen“ ‒ was meinen Sie damit?
Reinhard K. Sprenger: In den letzten Jahren wurde in den Unternehmen allerhand Management-Firlefanz angeschwemmt, der nur psychischen Dichtestress erzeugt und sowohl betriebswirtschaftlich schadet wie ethisch fragwürdig ist. Viele dieser Praktiken sind übergriffig, nötigen den Mitarbeiter in die Anpassung, ja therapeutisieren ihn geradezu. So drängt sich zum Beispiel immer mehr Kontrolle in die Zusammenarbeit und verdrängt vertrauensbasierte Kooperationsformen. Dass das die Bürokratiekosten im Unternehmen wuchern lässt, weiß jeder Praktiker. Dagegen setze ich den „Anstand durch Abstand“. Ich plädiere für eine Führung, die sich zurückhält, die nicht jedes Gestaltungsproblem mit einer Richtlinie erschlägt oder zum Prozess verengt. Bewegung braucht Raum.
Wirtschaftsforum: Warum fordern Sie den Wandel in der Unternehmenskultur eigentlich gerade jetzt?
Reinhard K. Sprenger: Stichworte wie „Disruption“ und „Digitalisierung“ sind bekannt. Wir sind zwar noch in einer Phase des Übergangs von der analogen zur digitalen Welt, aber eins ist klar: Man macht kein neues Unternehmen mit alten Institutionen. Wir müssen agiler werden, kundenorientierter, einfacher. Wir müssen auch attraktiver werden für Menschen auf dem Arbeitsmarkt, die entschieden anderes wollen, als die Generationen vor ihnen. Und wir brauchen den Unternehmergeist und auch die Selbstführung jedes einzelnen Mitarbeiters. Das menschliche Gehirn ist der schnellste Computer, den ein Unternehmen zur Verfügung hat.
Wirtschaftsforum: Betrifft der Wandel etablierte Unternehmen und Start-ups in der gleichen Weise?
Reinhard K. Sprenger: Etablierte Unternehmen in weit höherem Maße, weil sie Status-Quo-Organisationen sind. Veränderung ist ihnen wesensfremd. Deshalb brechen sie immer nur rhetorisch zu neuen Ufern auf. Jeder weiß, dass eine lange Erfolgsgeschichte lernbehindert macht. Die gegenwärtige Verfasstheit der Organisation ist ja die Antwort auf Fragen der Vergangenheit. Man muss also entrümpeln, sich von vielen lieb gewordenen Prozessen und Praktiken trennen. Wer Höhe gewinnen will, muss Ballast abwerfen.
Wirtschaftsforum: Geht es darum, den Führungsstil an die Erfordernisse des digitalen Transformationsprozesses und den hiermit verbundenen Innovationswettlauf anzupassen?
Reinhard K. Sprenger: Das ganze Konzept Führung ist reif für eine Redefinition. Denn zweifellos wird die horizontale Kommunikation zunehmen, die vertikale abnehmen. Klar erkennbar ist zudem das Hauptparadoxon digitaler Arbeitswelten: Trotz aller scheinbar digitaler Klarheit nehmen die Unschärfen zu. Die Dinge werden virtueller, die Unternehmensgrenzen verschwimmen ebenso wie die Unterscheidung zwischen Beruf und Privat, das Kurzfristige wird dominieren. Vor der größten Herausforderung aber steht die klassische Kernaufgabe von Führung: Entscheiden. Zu der klassischen Überfülle der Möglichkeiten, die ein Unternehmen paralysieren kann, addiert sich die Überfülle der Daten und ihrer Vernetzung. Das macht das Entscheiden schwieriger.
Wirtschaftsforum: Sehen Sie Unternehmen wie den Internet-Riesen Google als Vorbild für eine fortschrittliche Unternehmenskultur?
Reinhard K. Sprenger: Ich sage nicht, dass Google unternehmerisch alles falsch macht. Aber die Grundregel eines anständigen Unternehmens heißt: „Sei menschlich, nimm Abstand!“ Insofern sind Unternehmen wie Google oder Facebook nicht-anständige Unternehmen, weil sie Paradebeispiele für die Totalinklusion ihrer Mitarbeiter sind. Sie sind distanzlos, wollen den ganzen Menschen, und das 24 Stunden und 7 Tage die Woche. Die Zentrale von Facebook schmückt ein Plakat an der Wand mit dem Spruch: „Unsere Arbeit endet nie.“ Das illustriert ein Maximum an Distanzlosigkeit.
Wirtschaftsforum: Schlussfrage: Wie viel Freiheit für die Mitarbeiter verträgt ein Unternehmen, gibt es Grenzen?
Reinhard K. Sprenger: Nichts ist ohne sein Gegenteil wahr. Und eine grenzenlose Freiheit wäre Chaos. Und so braucht auch jedes Unternehmen ein gewisses Maß an Kontrolle und Anpassungsbereitschaft der Mitarbeiter. Aber der Konformitätsdruck wurde in den letzten Jahren massiv erhöht. Sogar, wie bei Bosch, wenn alle plötzlich ihre Krawatten ablegen sollen, man also das Nonkonforme konform machen will. Oder sich plötzlich alle Duzen sollen. Oder Englisch als Unternehmenssprache diktiert wird. Die Bevormundung wechselt nur den Gegenstand. Das steht in großer Spannung zu allem, was ein Unternehmen zukunftsfähig macht: Individualität, Kreativität und unternehmerische Disposition jedes einzelnen Mitarbeiters.
Über Reinhard K. Sprenger
Reinhard K. Sprenger, der als Deutschlands profiliertester Managementberater und einer der wichtigsten Vordenker der Wirtschaft gilt, berät alle wichtigen Dax-100-Unternehmen. Seine Bücher wurden allesamt zu Bestsellern, sind in viele Sprachen übersetzt und haben die Wirklichkeit in den Unternehmen in fast 25 Jahren von Grund auf verändert. Sein neues Buch mit dem Titel „Das anständige Unternehmen“ ist im DVA Verlag erschienen. Darin legt Sprenger dar, was richtige Führung ausmacht ‒ und was sie weglässt.