Brennglas Corona-Krise: Unser Bildungssystem im Ausnahmezustand

Interview mit Anja Karliczek, Deutsche Bundesministerin für Bildung und Forschung

Wirtschaftsforum: Der Slogan vom Wirtschaftsforum ist: Wir nehmen Wirtschaft persönlich. Welches Thema ist Ihnen vor dem Hintergrund der aktuellen Situation besonders wichtig? Wo sehen Sie zurzeit den Schwerpunkt Ihrer Arbeit?

Anja Karliczek: Gegenwärtig stellt die Covid-19 Pandemie die Bundesregierung, aber auch die gesamte Gesellschaft, vor enorme Herausforderungen Das gilt natürlich auch für das Bundesministerium für Bildung und Forschung. Für die Bildung heißt das insbesondere, alles dafür zu tun, dass jeder Schülerin und jedem Schüler in der aktuellen Situation das Lernen ermöglicht wird – so gut es eben geht. In der Forschung setzen wir alles daran, die Suche nach einem Impfstoff und einem wirksamen Medikament gegen die Lungenkrankheit Covid-19 zu beschleunigen. Dafür haben wir unter anderem die Mittel für die Impfstoffforschung in den vergangenen Monaten enorm aufgestockt und erst kürzlich noch mal um bis zu 750 Millionen Euro erhöht.

Wirtschaftsforum: Home-Schooling wegen Corona. Abgesehen davon, dass viele Eltern damit inhaltlich überfordert sind, hat das weitreichende Konsequenzen für die Unternehmen, bedeutet in diesen Zeiten eine doppelte Belastung. Viele Mitarbeiter setzen Ihren Urlaub dafür ein, nehmen eine unbezahlte Auszeit oder lassen sich sogar krankschreiben. Welche Lösung sehen Sie hier?

Anja Karliczek: Die aktuelle Ausnahmesituation ist für viele sehr belastend – auf die eine oder andere Art. Der Unterricht ist eingeschränkt, den Schülerinnen und Schülern fehlen ihre sozialen Kontakte. Die Hauptlast des eingeschränkten Schulbetriebs tragen sicherlich die Eltern sowie die Lehrerinnen und Lehrer. Eltern von Schulkindern müssen in diesen Tagen oft mehreres zugleich sein: Eltern, Arbeitnehmer und Lernbegleiter. Diese Belastung bringt viele an ihre Grenzen, und ich habe allergrößten Respekt davor, wie die Betroffenen dies bewältigen. Auch Lehrerinnen und Lehrer müssen einiges stemmen, schließlich konnten sie nur schwer auf die nun gebotene Gestaltung des Unterrichtens vorbereitet sein. Ich bin beeindruckt, mit welch kreativen Lösungen die Unterrichtsausfälle abgefedert werden. Den Grund für diese Ausnahmesituation kennen wir aber auch alle. Es geht darum, Gesundheit und Leben zu schützen – auch die Gesundheit der Lehrerinnen und Lehrer, die der Schülerinnen und Schüler und die ihrer Angehörigen. Deshalb müssen wir das Infektionsgeschehen streng beobachten und die Maßnahmen immer wieder anpassen. Genau das geschieht ja.

Bis es einen Impfstoff gibt, müssen wir den Pandemie-bedingten Ausnahmezustand möglichst alltagstauglich gestalten. Anja KarliczekDeutsche Bundesministerin für Bildung und Forschung
Anja Karleczek

Wirtschaftsforum: Eine Rückkehr zum Regelschulunterricht ist in absehbarer Zeit nicht vorstellbar. Welche Szenarien sind längerfristig denkbar und wie kann die Politik hier dazu beitragen, dem Bildungsauftrag gerecht zu werden, ohne dass die Unternehmen langfristig so belastet werden, wie das durch die aktuelle Handhabung der Fall ist?

Anja Karliczek. Bis es einen Impfstoff gibt, müssen wir den Pandemie-bedingten Ausnahmezustand möglichst alltagstauglich gestalten. Mit Blick auf unsere Schülerinnen und Schülern bedeutet das, bestmögliche Rahmenbedingungen zum Lehren und Lernen zu schaffen. Damit haben die Länder eine große Aufgabe zu bewältigen. Sie sind bei uns in Deutschland für die Schulen und die Gestaltung der Rahmenbedingungen für den Unterricht zuständig. Als Bund unterstützen wir die Länder im Rahmen unserer Zuständigkeiten nach Kräften. Zum Beispiel haben wir kurzfristig 100 Millionen Euro aus dem DigitalPakt Schule mobilisiert, zeitlich befristet neben Investitionen in die Infrastruktur die Beschaffung von Content ermöglicht sowie die HPI-Schul Cloud für diejenigen Schulen geöffnet, die bisher über kein entsprechendes Angebot verfügen. Darüber hinaus unterstützen wir mit weiteren 500 Millionen Euro die Ausstattung bedürftiger Schülerinnen und Schüler mit mobilen Endgeräten für die Teilnahme am digitalen Unterricht und das Lernen zu Hause.

Wirtschaftsforum: Hat Deutschland die Digitalisierung der Bildung verschlafen? Hätten wir digital besser auf Corona und die dadurch praktizierten Lernformen vorbereitet sein können?

Anja Karliczek: Die Corona-Krise wirkt wie ein Brennglas auf viele Bereiche. Wir sehen gerade deutlich, wo wir in der digitalen Bildung stehen und wo wir – vor allem in Anbetracht der Krise –gerne stünden. Man muss aber auch sehen, dass digitale Lernformen nie den Präsenzunterricht ersetzen können, sondern ergänzen – und zwar so, dass es pädagogisch und didaktisch sinnvoll ist. Das ist momentan natürlich anders, weil Präsenzunterricht in vielen Fällen nicht oder nur in geringer Stundenanzahl stattfinden kann. Wir sollten aber auch die Zeit nach Covid-19 im Blick haben, und dann wird es verstärkt darum gehen, den Präsenzunterricht mit digitalen Formen zu bereichern. Ein positiver Aspekt der Pandemie kann also sein, dass wir in digitaler Unterrichtsgestaltung geübter sein werden und digitaler Unterricht auch akzeptierter sein wird.

Wir sehen gerade deutlich, wo wir in der digitalen Bildung stehen und wo wir – vor allem in Anbetracht der Krise –gerne stünden. Digitale Lernformen können nie den Präsenzunterricht ersetzen, sondern ergänzen – und zwar so, dass es pädagogisch und didaktisch sinnvoll ist. Anja KarliczekDeutsche Bundesministerin für Bildung und Forschung
Anja Karleczek

Wirtschaftsforum: Was ist bislang Ihre wichtigste Erkenntnis zu unserem Bildungssystem, die Sie aus der COVID19-Krise gezogen haben?

Anja Karliczek: Als Teil des föderalen Systems liegt in Deutschland die Zuständigkeit für die Schulen bei den Ländern. Die aktuelle Krise zeigt, dass wir damit die Möglichkeit haben, in Bezug auf das Schulwesen passgenau auf das regionale Infektionsgeschehen zu reagieren. Und das ist richtig. Denn die Ausbreitung des Corona-Virus ist ja nicht überall in Deutschland gleich verteilt. Als Bundesbildungsministerium bieten wir den Ländern auch mit Blick auf die Schulen unsere Unterstützung an. Das gilt natürlich insbesondere in dieser Ausnahmesituation. Die zusätzlichen 500 Millionen Euro für die Ausstattung bedürftiger Schüler mit mobilen Endgeräten beispielsweise hatte ich bereits erwähnt. Gerade jetzt müssen alle staatlichen Ebenen eng zusammenwirken. Das ist auch im Interesse von Millionen Schülerinnen und Schülern und ihrer Eltern.

Interview: Sabine Benzler, Manfred Brinkmann

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