Leidbilder

Andererseits

Ähnlich verhält es sich mit der sogenannten Unternehmensphilosophie und den Unternehmensgrundsätzen, die so abstrakt oder so allgemein gehalten sind, dass man sie grundsätzlich vergessen kann oder - sind sie denn einmal formuliert - längst vergessen hat. Die einzige Funktion von Leitbildern, Unternehmensphilosophie und Unternehmensgrundsätzen scheint eben die zu sein, dass man sie hat. Wenn man sie hat, kann man sie, will man sie vergessen.

Ein Beispiel: beim Besuch einer großen Autohauskette, betont der Geschäftsführer die Bedeutung der Werte und des Unternehmensleitbildes. Auf die Frage nach den Inhalten des Leitbildes ruft er seine Sekretärin herein und bittet diese "Sagen Sie, Frau XY, wir haben doch irgendwo unser Leitbild aufgehängt, können Sie uns das bitte mal bringen". Das macht sie dann auch: gut vierzig Minuten später nach langer intensiver Suche. In der Zwischenzeit erläutert der Geschäftsführer das, was er noch in Erinnerung hat und wohl deshalb in Erinnerung hat, weil es in beinahe allen Leitbildern zu finden ist: "Unsere Mitarbeiter sind unser wichtigstes Kapital" und: "Bei uns steht der Mensch im Mittelpunkt."

Aha, denkt man da, die Mitarbeiter sind also das wichtigste Kapital. Wenn das so ist, dann stellt sich die Frage, wie dieses Kapital angelegt ist, kann man es verzinsen, kann man es umbuchen, ausbuchen, verschieben, investieren? Offensichtlich gehören die Mitarbeiter nicht zu den Menschen, die im Mittelpunkt stehen sondern sind eben "das wichtigste Kapital." Und schnell folgt die Vermutung, ob man da bei der Formulierung der Unternehmensgrundsätze und des Leitbildes nicht einen kleinen Fehler gemacht hat: hätte es nicht heißen müssen "Bei uns steht das Kapital im Mittelpunkt"? Das wäre doch gar nicht ehrenrührig, schließlich ist es der Zweck eines jeden Unternehmens, Gewinne zu erzielen, das Kapital zu vermehren. Na, so direkt wollen wir's dann lieber doch nicht sagen

Und überhaupt, was soll das, "der Mensch steht im Mittelpunkt" oder "der Kunde steht im Mittelpunkt"? Was soll er denn da, warum steht er da und was macht er da? Wahrscheinlich steht er, der Kunde, einfach nur so da, schaut sich ein wenig um, aber vielleicht wartet er ja auch darauf, nicht nur zu stehen sondern einen Platz angeboten zu bekommen oder überhaupt wahrgenommen und angesprochen zu werden. Aber das Leitbild sagt es ja ganz eindeutig - "der Mensch steht im Mittelpunkt". Folglich sollten wir ihn auch da stehen lassen.

Der Mensch, also der Kunde, denn die Mitarbeiter sind ja keine Menschen sondern Kapital, der Kunde steht also im Mittelpunkt? Fragt sich nur, im Mittelpunkt von was? Und was ist, wenn der Kunde gar nicht stehen geschweige denn im Mittelpunkt stehen will, sondern wenn er einfach nur betreut werden oder Antworten bekommen möchte? Und was macht man mit Kunden und/oder Menschen, die gar nicht stehen sondern zuhause am Telefon sitzen und warten und warten und warten, dass sie "schon bald an den nächsten freien Mitarbeiter weitergeleitet werden"? Man lässt sie stehen, im Mittelpunkt ihres häuslichen Umfelds und schon ist Kundenzufriedenheit garantiert.

Insbesondere in Dienstleistungsunternehmen mit Hotlines ist man sehr darum bemüht, dem Unternehmens-Leitbild gerecht zu werden, indem man den Kunden da stehen lässt, wo er - laut Leitbild - hingehört: im Mittelpunkt. Man tut alles dafür, den Kunden dort beim Stehen nicht zu stören: man ist - ein weiteres beliebtes Schlag-Wort in Leitbildern - darum bemüht, flexibel zu sein, sprich auch einen kleinen oder großen Schritt um den Kunden herum zu machen, um ihn beim Stehen im Mittelpunkt nicht zu stören oder zu behindern.

Vermutlich um einem weiteren Grundsatz vieler Leitbilder gerecht zu werden, der Kundenzufriedenheit. Vielleicht fühlt er sich ja gestört, der Kunde, wenn er im Mittelpunkt steht und dann auch noch angesprochen wird, vielleicht stören wir ihn nur in seiner Zufriedenheit, wenn er im Mittelpunkt steht und wir ihm einen Stuhl anbieten. Wer sitzt schon gerne auf einem Stuhl im Mittelpunkt?

Schließlich findet sich in vielen Leitbildern die Forderung, nach einem schonenden Umgang mit den Ressourcen, insbesondere dem wichtigsten Kapital des Unternehmens, den Mitarbeitern. Wie könnte man dieses Kapital besser schonen als dadurch, möglichst keine Unruhe bei den Mitarbeitern zu erzeugen, indem man sie animiert, den Kunden im Mittelpunkt durch eine freundliche Ansprache zu verunsichern.

So fügen sich alle Elemente des Leitbildes zu einem sinnvollen Ganzen zusammen: das wichtigste Kapital des Unternehmens, die Mitarbeiter, wird geschont, indem diese flexibel darin sind, den Kunden beim Stehen im Mittelpunkt nicht zu stören, und der Kunde ist zufrieden, weil er gänzlich ungestört im Mittelpunkt von was auch immer stehen darf.

Damit ist die Funktion von Leitbildern vollends erfüllt: vielsagend nichtssagend zu sein, zu zeigen, dass man im Mainstream mit schwimmt, es genau so macht wie alle anderen, völlig wertfrei agiert, sich damit alle Türen offen hält und nur in einem verbindlich ist: in der Unverbindlichkeit.

Ein Kommentar von Georg-W. Exler

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