Es herrscht ein falscher Blick auf die menschliche Natur

Interview mit Rutger Bregman

Wirtschaftsforum: Herr Bregman, in Ihrer aktuellen Publikation schreiben Sie die Geschichte der Menschheit um und erklären, dass wir von Natur aus gut sind. Die täglichen Schlagzeilen sprechen eine andere Sprache. Ist meine Wahrnehmung falsch? 

Rutger Bregman: Nachrichten sind wahrscheinlich die schlechteste Informationsquelle da draußen. Es geht in ihnen vor allem um das Außergewöhnliche, und je außergewöhnlicher ein Ereignis ist – sei es ein Terroranschlag, ein gewaltsamer Aufstand oder eine Naturkatastrophe – desto größer ist seine Relevanz für die Nachrichten. Psychologen glauben, dass Nachrichten und Pressemeldungen das sogenannte „Gemeine-Welt-Syndrom“ verursachen, dessen klinische Symptome Zynismus, Misanthropie und Pessimismus sind. Menschen, die Nachrichten verfolgen, stimmen eher Aussagen wie „Die meisten Menschen kümmern sich nur um sich selbst“ zu. Sie glauben häufiger, dass wir als Individuen hilflos sind, um die Welt zu verbessern. Sie sind eher gestresst und depressiv.

Psychologen glauben, dass Nachrichten und Pressemeldungen das sogenannte „Gemeine-Welt-Syndrom“ verursachen, dessen klinische Symptome Zynismus, Misanthropie und Pessimismus sind. Rutger Bregman
Rutger Bregman

Wirtschaftsforum: „Homo economicus“ ist ein Begriff, der von Akademikern geprägt wurde. Welche Spuren dieses Konzepts finden sich in Ihrem Buch?

Rutger Bregman: Ökonomen definierten unsere Spezies als den Homo economicus: immer auf persönlichen Gewinn bedacht, wie egoistische, berechnende Roboter. Auf dieser Vorstellung der menschlichen Natur bauten Ökonomen eine Kathedrale von Theorien und Modellen, die schließlich zu einer Fülle von Gesetzen führte. Doch niemand hatte recherchiert, ob es den Homo economicus tatsächlich gab. Das heißt, erst als der Ökonom Joseph Henrich und sein Team den Begriff im Jahr 2000 aufgriffen. Bei einem Besuch von fünfzehn Gemeinschaften in zwölf Ländern auf fünf Kontinenten untersuchten sie Bauern, Nomaden und Jäger und Sammler, alles auf der Suche nach diesem Hominiden, der die Wirtschaftstheorie seit Jahrzehnten leitet. Vergeblich. Jedes Mal zeigten die Ergebnisse, dass die Menschen einfach zu anständig waren. Zu freundlich.

Weniger amüsant ist, dass diese trübe Sicht auf die menschliche Natur seit Jahrzehnten auf uns wirkt. In den 1990er-Jahren fragte sich der Wirtschaftsprofessor Robert Frank, wie sich die Betrachtung von Menschen als letztlich egoistisch auf seine Studenten auswirken könnte. Er gab ihnen eine Reihe von Aufgaben, die ihre Großzügigkeit messen sollten. Das Ergebnis? Je länger sie Wirtschaftswissenschaften studiert haben, desto egoistischer wurden sie.

Wirtschaftsforum: Sie decken auch das Unternehmertum im Kapitel über Motivation ab. Würden Sie Ihren Interviewpartner Jos de Blok, Gründer und Geschäftsführer von Buurtzorg, als Vorbild des „guten Unternehmers“ betrachten?

Rutger Bregman: Jos de Blok ist ein wahrer Visionär. In nur zehn Jahren baute er eine riesige Organisation mit 15.000 Mitarbeitern auf, die eine qualitativ hochwertige Gesundheitsversorgung zu niedrigeren Kosten als seine Konkurrenten bietet, während die Mitarbeiter ein höheres Gehalt erhalten. Und ohne Manager. Jos de Blok hat eine grundlegend andere Sicht auf die menschliche Natur, er vertraut seinen Mitarbeitern wirklich als autonome Berufstätige. Und die Ergebnisse sind pure Magie.

Interview: Markus Büssecker | Foto: The Correspondent

Tags
Nach themenverwandten Beiträgen filtern

Mehr zum Thema

Stadtplanung im Auftrag der Zukunft

Interview mit Jan Nicolin, Dipl. Ing. Architekt und Geschäftsführer der Stadtbauplan GmbH

Stadtplanung im Auftrag der Zukunft

Wenn in deutschen Städten gebaut wird, dann oft mit einem Blick in die Zukunft – strukturiert, komplex und politisch. Gerade im öffentlichen Hochbau und in der Stadtentwicklung stehen Kommunen heute…

Technik, die Räume lebendig macht

Interview mit Ralph Höher, Geschäftsführer der ITV - Ingenieur Team ­Versorgungstechnik GmbH

Technik, die Räume lebendig macht

Seit mehr als 20 Jahren prägt die ITV – Ingenieur Team Versorgungstechnik GmbH das Berliner Stadtbild entscheidend mit. Ob Wohnungsbau, Verwaltungsgebäude oder Sanierungen im Bestand: Das Ingenieurbüro sorgt dafür, dass…

„Draht ist unser roter Faden“

„Draht ist unser roter Faden“

Drähte, egal in welcher Form oder in welcher Ausführung, begegnen uns in der Mikrowelle, im Gartenzaun oder beim Reisekoffer, den wir auf Rollen durch den Flughafen ziehen. Es ist diese…

Spannendes aus der Region

Stadtplanung im Auftrag der Zukunft

Interview mit Jan Nicolin, Dipl. Ing. Architekt und Geschäftsführer der Stadtbauplan GmbH

Stadtplanung im Auftrag der Zukunft

Wenn in deutschen Städten gebaut wird, dann oft mit einem Blick in die Zukunft – strukturiert, komplex und politisch. Gerade im öffentlichen Hochbau und in der Stadtentwicklung stehen Kommunen heute…

Technik, die Räume lebendig macht

Interview mit Ralph Höher, Geschäftsführer der ITV - Ingenieur Team ­Versorgungstechnik GmbH

Technik, die Räume lebendig macht

Seit mehr als 20 Jahren prägt die ITV – Ingenieur Team Versorgungstechnik GmbH das Berliner Stadtbild entscheidend mit. Ob Wohnungsbau, Verwaltungsgebäude oder Sanierungen im Bestand: Das Ingenieurbüro sorgt dafür, dass…

Tierisch digital

Interview mit Christian Lehmann, Co-CEO der Deine Tierwelt GmbH

Tierisch digital

Die Deine Tierwelt GmbH mit Sitz in Hannover hat sich in den vergangenen 18 Jahren von einer Online-Kleinanzeigenplattform zu einer der führenden Communities für Tierfreunde im deutschsprachigen Raum entwickelt. Im…

Das könnte Sie auch interessieren

Passion für Mobilität

Interview mit Eugène Krabbenborg, CEO der Fleet Support Group B.V

Passion für Mobilität

Wer sich als Unternehmer wirklich auf sein Kerngeschäft fokussieren möchte, ist froh, wenn er zuverlässige Partner hat, die ihn entlasten. Ein solcher Partner ist die niederländische Fleet Support Group. B.V.…

Stadtplanung im Auftrag der Zukunft

Interview mit Jan Nicolin, Dipl. Ing. Architekt und Geschäftsführer der Stadtbauplan GmbH

Stadtplanung im Auftrag der Zukunft

Wenn in deutschen Städten gebaut wird, dann oft mit einem Blick in die Zukunft – strukturiert, komplex und politisch. Gerade im öffentlichen Hochbau und in der Stadtentwicklung stehen Kommunen heute…

Löcher stopfen und Daten managen

Interview mit Dr.-Ing. Karsten Gruber, Geschäftsführer und Joachim Ernst, Geschäftsführer der OBERMEYER Infrastruktur GmbH & Co. KG

Löcher stopfen und Daten managen

Seit über sechs Jahrzehnten prägt die Münchener OBERMEYER Gruppe die Ingenieur- und Planungskultur in Deutschland. 2020 wurde die OBERMEYER Infrastruktur GmbH & Co. KG als eigenständige Gesellschaft gegründet, um sich…

TOP