Eine zentrale Frage wird der Kampf um Einfluss zwischen den USA und China sein
Interview mit Gideon Rachman, Journalist und Autor

Wirtschaftsforum: Herr Rachman, Donald Trump formulierte sein Credo mit ‘Make America Great Again’. Wenn Sie sich die aktuellen geopolitischen Entwicklungen anschauen, ist seine Absicht eine ‘Mission impossible’?
Gideon Rachman: Der Satz ist absichtlich vage gehalten. Aber ich denke, Trumps Slogan hat eine nationale sowie internationale Bedeutung. Ich glaube, dass er auf nationaler Ebene die Idee ins Feld führt, dass die USA zu der Ära von unablässig steigenden Lebensstandards, reichlich gut bezahlten Jobs für ungelernte Arbeitskräfte und womöglich auch der Klassen-, Geschlechter- sowie Rassenstandards der 1950er-Jahre zurückkehren könnten. Meines Erachtens sind diese Ziele unrealistisch. Amerika hat sich in sozialer und demografischer Hinsicht verändert. Der wirtschaftliche Anspruch ist aller Ehren wert – aber in Zeiten der Globalisierung und Computerisierung nur schwer zu erreichen. Eine Möglichkeit wäre, eine stärker umverteilende Steuerpolitik einzuführen – aber Trump hat das Gegenteil getan.
Auf internationaler Ebene scheint die Idee zu sein, eine Ära des unbestrittenen US-Primats wiederherzustellen. Dies ist jedoch angesichts des Aufstiegs Chinas – sowie Indiens und des unwahrscheinlichen Wiedererstarkens Russlands – höchst unrealistisch. Wenn überhaupt, befindet sich der amerikanische Einfluss auf dem Rückzug – besonders im Nahen Osten und im asiatisch-pazifischen Raum. Die Herausforderung wird darin bestehen, den Übergang zu einer neuen Ordnung zu bewältigen und gleichzeitig Konflikte zu minimieren. Aber wir sollten auch akzeptieren, dass internationale Angelegenheiten höchst unberechenbar sind – siehe den Zusammenbruch der UdSSR. Eine Aufruhr in China könnte das Bild erneut verändern. Und es gibt bestimmte Bereiche, in denen die Vormachtstellung der USA für einige Zeit wahrscheinlich unangetastet bleiben wird – zum Beispiel gibt es keine plausible Herausforderung für den US-Dollar als wichtigste Reservewährung der Welt.

„Wenn überhaupt, befindet sich der amerikanische Einfluss auf dem Rückzug – besonders im Nahen Osten und im asiatisch-pazifischen Raum.“ Gideon Rachman
Wirtschaftsforum: In Ihrem Buch finden sich einige Hinweise, dass Konflikte zwischen den USA und China unvermeidlich sein könnten. Können beide Länder wirklich einen großen Konflikt ohne ernsthafte Konsequenzen auf politischer und wirtschaftlicher Ebene riskieren?
Gideon Rachman: Nun, ich diskutiere dieses Thema sicherlich. Aber eigentlich bin ich skeptisch gegenüber der Idee einer ‘Thukydidesfalle’ – der Vorstellung, dass eine aufstrebende und eine etablierte Macht unvermeidlich zusammenstoßen und in den Krieg ziehen werden. Ich denke nicht, dass dies im Atomzeitalter unvermeidlich oder sogar wahrscheinlich ist. Ich glaube jedoch, dass es zwischen den USA und China zu einer zunehmenden Rivalität um Handel und insbesondere Technologie kommen wird – und dies ist tatsächlich bereits der Fall. Infolgedessen könnte das globale Weltwirtschaftssystem auseinanderbrechen, wobei die USA und China versuchen, andere Länder zu zwingen, sich ausschließlich mit ihnen (und ihrer Technologie) zu befassen. Und das Risiko eines militärischen Zusammenstoßes kann nicht ausgeschlossen werden, auch wenn dies unwahrscheinlich ist. Ich glaube nicht, dass die Führer Chinas oder der USA einen Krieg absichtlich wählen würden. Aber die Gefahr eines Konflikts zwischen den beiden Flotten im Pazifik ist sicherlich vorhanden – und das könnte eskalieren. Außerdem gibt es zahlreiche regionale Brennpunkte, darunter Nordkorea und Taiwan.
Wirtschaftsforum: Sie erwähnen auch kulturelle Unterschiede: Die Chinesen haben eine zyklische Sicht der Geschichte, die USA eine lineare. Wo würden Sie die europäische Mentalität innerhalb dieser Matrix positionieren?
Gideon Rachman: Ich denke, die Europäer sind irgendwo dazwischen. Die Philosophie der Aufklärung hat sicherlich eine lineare Vorstellung von Fortschritt gefördert. Und auf dem Höhepunkt der europäischen Weltmacht hätten viele eine geradlinige Sicht auf die Geschichte akzeptiert, die auf Europas Mission als Bringer der Zivilisation basiert. Die Erfahrung von zwei Weltkriegen und der Niedergang der europäischen Macht haben diese optimistische Sichtweise beeinträchtigt. Möglicherweise ist (oder war) der letzte Rückzugsort die Europäische Union, deren innigste Verfechter gehofft haben, dass die EU den Weg zu einer neuen Form globalisierter Regierungsführung weisen würde. Ich würde jedoch Europas Weltbild mehr als ‘deklinistisch’ bezeichnen, als zyklisch. Das Einzigartige an der chinesischen Sichtweise ist, dass sie Tausende von Jahren zurückreicht und Geschichte in Jahrhunderten (Dynastien) betrachtet... Man kann also ohne weiteres viele Jahrhunderte mit einer erfolgreichen Dynastie wie den Ming oder den Song verbinden; und dann eine Periode des Chaos und des Niedergangs erleben, die auch Jahrhunderte dauern kann, der jedoch eine weitere erfolgreiche Periode folgen kann.
„Wird Amerika in der Lage sein, eine informelle Koalition von Mächten zu bilden, um ein aufstrebendes China einzudämmen?“ Gideon Rachman

Wirtschaftsforum: Veröstlichung (‘Easternization’) ist ein Prozess, den Sie auf politischer Ebene analysieren. Inwiefern hat die Veröstlichung bereits Einfluss auf westliche Alltagsgesellschaften?
Gideon Rachman: Ich denke, das ist bereits sehr offensichtlich. China ist jetzt Deutschlands größter Exportmarkt – größer als die USA oder Frankreich. Drei der fünf größten Volkswirtschaften der Welt, gemessen an der Kaufkraft, befinden sich nun in Asien - China auf Platz Eins, Indien auf Drei, Japan Vier (Deutschland ist Fünfter). Asiatische und chinesische Touristen werden im Westen zu einem wesentlichen Teil des öffentlichen Lebens – und der Tourismus ist eine unserer größten Branchen. Chinas wirtschaftliche Macht hat zwangsläufig politische Konsequenzen – zum Beispiel durch die Belt and Road-Initiative, die den chinesischen Einfluss auf Europa ausdehnt. Und Konflikte innerhalb Asiens werden globale Auswirkungen haben, da Asien für die Weltwirtschaft von zentraler Bedeutung ist.
Wirtschaftsforum: Sie nennen die Regulierung der Veröstlichung der Menschheit die größte Herausforderung im 21. Jahrhundert. Welches Land wird die führende Rolle innerhalb dieses Prozesses einnehmen?
Gideon Rachman: Ich denke, das Problem – oder vielleicht die Herausforderung – ist, dass kein Land allein diesen Prozess steuern kann. Das muss evolutionär und kooperativ geschehen, wenn er kontrolliert umgesetzt werden soll. Eine zentrale Frage wird der Kampf um Einfluss zwischen den USA und China sein. Wird Amerika in der Lage sein, eine informelle Koalition von Mächten zu bilden, um ein aufstrebendes China einzudämmen? Oder wird Chinas Wirtschafts- und Marktmacht unweigerlich andere Länder in die Einflusssphäre von Peking ziehen?
Interview: Markus Büssecker | Fotos: Alistair Hall; Weltkiosk