"Was ich an den Deutschen mag – und an den Griechen nicht"

Gastbeitrag des griechischen Wirtschaftswissenschaftlers Spiridon Paraskewopoulos

„All das, was ich von nicht-deutschen Freunden, Journalisten, Politikern und sogar Wissenschaftlern darüber lese, sehe und höre, wie sich führende deutsche Politiker – allen voran Angela Merkel – und deutsche Bürger innerhalb der EU angeblich verhalten, vermittelt mir den folgenden Eindruck: Ich, der mehr als 52 Jahre integriert in Deutschland lebt, habe nicht mitbekommen, dass die deutsche Bevölkerung – die sogar zu rund 50% noch nicht einmal deutscher Herkunft ist – fast 70 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg nach wie vor nicht aufgehört haben soll, Anhänger der imperialen Politik Bismarcks und Hitlers zu sein.

Anders gesprochen wird unterstellt, dass die Deutschen eine deutsche Dominanz und Hegemonie in Europa, wenn nicht sogar weltweit, realisieren wollen. Und da sie dies mit zwei Weltkriegen nicht erreicht haben, versuchen sie dies nun – und vor allem nach ihrer Wiedervereinigung – durch ihre wirtschaftliche Stärke und Macht zu vollenden. Diese Auffassung wird, um nur ein Beispiel zu nennen, von dem spanischen Ökonomieprofessor Juan Torres López in einem Beitrag für eine große spanische Tageszeitung vertreten, welcher inzwischen wieder aus dem Online-Auftritt der Zeitung verschwunden ist.

Dies ist der erste Teil der polemischen Argumente und Behauptungen von Nicht-Deutschen, vor allem der Süd-Europäer, hinsichtlich des politischen Verhaltens der Deutschen.

Der zweite Teil ist für mich nicht nur sehr unverständlich, sondern sogar widersprüchlich: Die gleichen Leute, die die Deutschen hegemonialer Tendenzen in Europa beschuldigen, werfen den Deutschen zugleich vor, dass sie keine Führungsposition in der EU übernehmen wollen, um die europäischen Ideen und Ziele weiter zu bringen. „Deutschland sollte mehr Führungsstärke in Europa zeigen“, argumentieren die Vertreter der britischen Wirtschaftszeitung Economist. Μit anderen Worten, von den Deutschen wird verlangt, die Rolle der politischen Führung in der EU zu übernehmen.

Wo die Weisheit zu Hause ist

Trotz des Risikos, von meinen griechischen Landsleuten als germanophil oder sogar als Deutscher und, noch schlimmer, als naiv bezeichnet zu werden, werde ich im Folgenden versuchen, den Advocatus Diaboli zu spielen. Hier also meine eigene Einschätzung hinsichtlich des wirtschaftlichen, sozialen und politischen Verhaltens der Deutschen, wie ich es während der nunmehr 52 Jahre meines Aufenthaltes in Deutschland erlebt habe. Ob es den übrigen Europäern und insbesondere den Griechen gefällt oder nicht, wir haben es im Falle der Deutschen nicht nur mit einem wirtschaftlich, sozial und politisch starken, sondern vor allem mit einem "weisen" Volk zu tun. Weise ist derjenige, der all das weiß, welches seinem intellektuellen, schulischen und beruflichen Niveau entspricht. All dies reicht jedoch nicht dafür aus, dass jemand weise ist, wenn er nicht zugleich den erforderlichen Verstand und die entsprechende Lebenserfahrung besitzt, um sein Wissen einzuordnen, zu bewerten und entsprechend umzusetzen. Und schließlich wird die Weisheit vollendet, wenn gleichzeitig eine gewisse Intuition und ein wenig Emotion vorhanden sind.

Diese Qualitäten von Weisheit, behaupte ich, sind mehr oder weniger alle bei fast allen Deutschen vorhanden. In der deutschen Gesellschaft ist es selbstverständlich, dass jeder versucht, so viele Spezialkenntnisse wie möglich zu erwerben, die ihn in der Lage versetzen, eine objektive Meinung über seinen Beschäftigungsgegenstand zu haben Ein deutscher Metzger wird keine spezielle Meinung über den Gegenstand eines Zimmermanns äußern, der als seine Aufgabe die Verarbeitung von Holz hat. Im Gegensatz zu der Mehrheit der Griechen sind die Deutschen also mehr Spezialisten als Generalisten. Diese Haltung und dieses Verhalten erkennt man auf allen Ebenen des privaten, sozialen, wirtschaftlichen und politischen Lebens, welches konsequent verfolgt wird und zu einer leistungsorientierten Gesellschaft führt. Dies lässt sich – auch in Krisenzeiten – an den entsprechenden, verhältnismäßig guten ökonomischen Ergebnissen ablesen, die wir heute überall in Deutschland überall sehen.

Und letztendlich wurden die Deutschen durch diese "Weisheit", ihr konsequentes Verhalten und die Erfahrung von zwei Weltkriegen, die Deutschland fast vollständig zerstörten und die Deutschen zum weltweit meist gehassten Volk machten, zum Erwachen und zu einer echten Läuterung gebracht. So konnten sie ihre hervorragenden sozioökonomischen Früchte der Nachkriegsweisheit nicht nur für sich nutzen, sondern auch für alle ihre ehemaligen Feinde und heutigen Freunde innerhalb der EU nutzbar machen. Und diese Weisheit führte sie nach 1945 zu einer ernst gemeinten Entschuldigung bei ihren Opfern, führte zur detaillierten Benennung und Verurteilung ihrer erbärmlichen und menschenunwürdigen Gräueltaten, sie ermöglichte das Erzählen ihres barbarischen Verhaltens mit Scham und Abscheu gegenüber ihren Kindern und bremst das Vergessen durch die ständige Wiederholung in ihren Schulen bis heute. Die Geschichte hat sie also gelehrt, den Krieg und alle Verhaltensweisen, die Gewalt und Unnachgiebigkeit in den internationalen Beziehungen erzeugten, zu verabscheuen. Und das Beste ist, dass sie das demokratische politische System und das ökonomische System der freien Marktwirtschaft, welche die Sieger- und Besatzungsmächte (USA, Großbritannien und Frankreich) im westlichen und größten Teil Deutschlands den Deutschen auferlegten, nicht nur anerkannt und akzeptiert, sondern mit gründlicher Konsistenz, Klarheit und Erfolg umgesetzt haben.

Die Rolle der Deutschen bei der Entstehung und Gestaltung der EU

Die Deutschen und die Franzosen, einst erbitterte Feinde, sind diejenigen, die nach dem Zweiten Weltkrieg vorangingen, um zunächst die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft zu gründen, die sich heute zu einer Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion entwickelt hat. Sie haben damit nicht nur die Bedingungen für mehr als 65 Jahre andauernde friedliche Koexistenz der europäischen Völker geschaffen (ein beispielloses Ereignis in der europäischen Geschichte), sondern sie haben wesentlich dazu beigetragen, dass für Deutschland und für die anderen Europäer ein bisher unbekannter wirtschaftlicher Wohlstand entstand.

Mit dem Wissen und den dynamischen Entscheidungen charismatischer politischer Führer, wie Konrad Adenauer, Ludwig Erhard, Willy Brandt, Helmut Schmidt, Helmut Kohl und anderen, waren sie in der Lage, beneidenswerte politische, wirtschaftliche und soziale Systeme zu kreieren und zu etablieren, sowie mit der endgültigen, durchaus nicht leichten Akzeptanz aller für Deutschland harten Implikationen des selbst verursachten Zweiten Weltkrieges den Frieden in Europa zu festigen.

Mit anderen Worten, es ist den Deutschen gelungen, die sozioökonomischen Prinzipien oder Grundsätze der Subsidiarität (Unmittelbarkeit und Rechenschaftspflicht bei der Entscheidungsfindung) und der Solidarität so miteinander zu verknüpfen, dass daraus das sozioökonomische Systems der Marktwirtschaft mit sozialem Gesicht oder, wie sie auch genannt wird, die Sozialen Marktwirtschaft entstand und umgesetzt wurde. Beide Komponenten (Subsidiarität und Solidarität) des sozioökonomischen Modells sind mehr oder weniger der Maßstab für wirtschaftliches und soziales Verhalten aller Deutschen geworden. Und seit dem Vertrag von Maastricht (1992) wurde dieses System schließlich ein Gradmesser für alle Länder der Europäischen Union (EU).

Griechenland – Beispiel für endlos dehnbare Solidarität?

Griechenland, welches seit 1981 ein vollwertiges Mitglied der EU ist, hat die europäische Solidarität intensiv genossen, da es bis heute europäische Subventionen in Höhe von mehr als 150 Milliarden Euro erhalten hat. Wenn die griechischen Regierungen diese Gelder gemäß den Anforderungen des Subsidiaritätsprinzips, d.h. primär investiv, eingesetzt hätten, dann, so ist zu vermuten, wäre der positive Effekt auf das Wirtschaftswachstum Griechenlands und für den Wohlstand seiner Bürger viel günstiger ausgefallen. Die griechischen parlamentarischen Regierungsparteien und ihre Politiker, die seit fast 40 Jahren immer noch regieren, haben in dieser Zeit die europäischen Subventionsgelder in vielerlei Hinsicht verschwendet, da sie mit einem großen Teil dieser Gelder sich selber und ihre mit ihnen parteipolitisch und gewerkschaftlich verbundenen Freunde finanziert haben. Hinzu kamen noch Hunderte von Milliarden Euro öffentlicher Auslandskredite, deren Umfang heute eine geordnete Bedienung der Schulden (die Rückzahlung) unmöglich macht. Der Schuldendienst übertrifft bei weitem die finanziellen Möglichkeiten des griechischen Staates und des griechischen Volkes. De facto sind heute der griechische Staat und seine Bürger zahlungsunfähig.

Inzwischen ist uns allen klar geworden, dass die Korruption, die illegalen Absprachen und die Inkompetenz der griechischen Politiker zu diesem Ergebnis geführt haben. Die europäischen Politiker ignorieren leider diese Tatsache und erklären sich immer wieder solidarisch, allerdings nicht mit dem griechischen Volk, sondern mit diesen korrupten Politikern und halten sie, durch die wiederholte Gewährung von Krediten, dauerhaft an der Macht. So haben die europäischen Partner und der Internationale Währungsfonds 2010 beschlossen und begonnen, dem griechischen Staat (bzw. den griechischen Politikern) bis 2020 Kredite in Höhe von 240 Mrd. Euro zu einem sehr niedrigen Zinssatz (im Durchschnitt etwa 1,5%) zu gewähren. Eine solche Großzügigkeit stellt ein Novum (ist beispiellos) in der Geschichte der Weltwirtschaft dar.

Aber das Schlimmste und das Schändlichste bei dieser Entwicklung ist, dass diese raffinierten griechischen Politiker langsam beginnen, mit Hilfe der Medien das griechische Volk zu überzeugen, dass die Hauptschuldigen für ihre Misere die Kreditgeber sind – hauptsächlich die Deutschen, die mindestens 65 Mrd. Euro gewähren. Sie alle sind Zinswucherer, harte Ausbeuter, die vor allem das Ziel haben Griechenland zu erobern, die Griechen zu unterwerfen und zu versklaven. Und diese Botschaft scheint in der griechischen Gesellschaft Fuß gefasst zu haben, da sie fast in allen Medien und in den Bürgercafés das erste Thema bei Diskussionen ist.

Samaras und Venizelos, die Koalitionäre in der heutigen Regierung, deren Parteien und somit auch sie selbst die Hauptverantwortlichen für die gegenwärtige Griechenlandkrise sind, merken bereits, dass auch die 240 Milliarden Euro Kredite nicht ausreichen werden, um Griechenlands Zahlungsunfähigkeit zu verhindern. Intuitiv begreifen sie auch, dass die Europäer (hoffentlich) nicht mehr bereit sind, weitere Kredite zu gewähren. So bleiben sie ihrer bisherigen Strategie treu und versuchen, mit ihren Interviews die Unschuldigen zu spielen und die Griechen zusätzlich zu verwirren, indem sie sagen, dass die EU keine echte Union ist, wenn es keine Solidarität unter den Unionsmitgliedern gibt.

Welche Solidarität wollen Samaras und Venizelos noch haben? Müssten sie sich nicht schämen, wenn sie selbst und auch viele Gleichgesinnte und ihre Schützlinge (siehe Liste Lagarde) – allesamt Euro-Millionäre – nicht aufhören, um weitere europäische Almosen zu betteln, die letztlich sie selbst genießen, aber Generationen von Griechen in der Gegenwart und in der Zukunft belasten werden?

Gibt es noch Hoffnung?

Gemäß ihren Fähigkeiten und Fertigkeiten sollten alle konstruktiv mit ihrem Denken und Handeln zu einem „guten Leben für alle“ in der EU beitragen. Unabhängig von den unterschiedlichen legitimen politischen Überzeugungen und Präferenzen sollte jeder versuchen, die europäischen Entwicklungen mit zu gestalten und zu formen und somit zu einem friedlichen Leben in Europa beizutragen. Für die Akzeptanz der anstehenden Reformen und Umstrukturierungen in Europa und vor allem in Griechenland ist es notwendig, dass den Bürgern das Gefühl vermittelt wird, alles geschieht gerecht. Die Verteilung und Umverteilung von Einkommen und Steuerlasten werden von den Bürgern nur dann als fair und gerecht empfunden, wenn alle sehen, dass alle gemäß ihren Fähigkeiten und ihren Leistungen zu der Erfüllung der gesellschaftlichen Aufgaben beitragen.“

Der Gastbeitrag ist aus einem Vortrag abgeleitet, den Spiridon Paraskewopoulos, emeritierter Professor der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität Leipzig, ursprünglich in griechischer Sprache gehalten hat. Der Vortrag war eine Reaktion auf ein Interview des griechischen Ministerpräsidenten Antonis Samaras im griechischen Fernsehen. Darin hatte dieser den EU-Europäern und insbesondere den Deutschen vorgeworfen, dass sie mit Griechenland nicht solidarisch sind.

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