"Stimme abgeben" – oder: Warum ich nicht wählen gehe

Andererseits

Alle vier oder fünf Jahre dürfen wir in unserem so genannten, aber keinesfalls so existierenden demokratischen System unsere Stimme erheben für den kleinen Augenblick der Wahl. Wir dürfen ein Kreuz auf einem Zettel machen, und anschließend – symbolisch – diesen Zettel mit unserer Stimme in eine Box werfen. Das ist der Moment, in dem wir für die nächsten vier Jahre unsere Stimme abgegeben haben.

Ab diesem Moment machen andere mit unserer Stimme, was sie wollen. Sie bilden Koalitionen, von denen sie behaupten dürfen, dass sie der Wählerwille seien. So haben die Wähler entschieden. Wir geben völlig unbekannten Menschen, von denen wir nicht wirklich wissen, was sie denken, von denen wir nur einen Eindruck haben, ob sie uns sympathisch erscheinen oder nicht, unsere Stimme. Diese Menschen dürfen dann von uns legitimiert für uns sprechen, und wir haben keine Wahl mehr.

Diese Menschen, Politiker genannt, die auf Wahlplakaten mit sinnentleerten Schlagwörtern – man mache sich das einmal bewusst, was das wirklich bedeutet: Schlag-wörter - dargestellt werden, denen es einzig auf die Farben der Wahlplakate und darauf ankommt, ob eine rote oder gelbe Krawatte mehr Stimmen bringt. Diese Menschen erwerben mit der Wahl das Recht, vier Jahre tun und lassen zu dürfen, was sie wollen. Sie dürfen uns mit Phrasen, Versprechen erschlagen, betäuben und „ausrauben“. Sie dürfen über unsere Zukunft bestimmen und tun nichts anderes, als ihre eigene Zukunft zu sichern.

Mit der Abgabe unserer Stimme haben wir sozusagen einen Vertrag unterschrieben, der uns aller weiteren Rechte der freien Meinungsäußerung beraubt. Wir dürfen auch weiterhin im kleinen Kreis oder mit Stammtischgebrüll unsere Stimme erheben, nur wird sie nicht mehr gehört: Wir schreien stumm, denn wir haben unsere Stimme abgegeben. Wir haben sie Heilsbringern abgetreten, die Unheil bringen. Bringen wir es auf den Punkt: Indem wir wählen, entscheiden wir nicht mehr und nicht weniger als darüber, wer die nächsten vier Jahre machen darf, was er oder sie will. Wir geben Politikern einen Freibrief für Politiker, einen scheinbar demokratisch legitimierten, tun und lassen zu können, was sie wollen.

Nun zum Paradoxen: Ich begegne immer wieder Menschen, die behaupten, wer nicht zur Wahl gehe, habe anschließend kein Recht zu meckern und mitzureden. Wo steht das? Mein Eindruck ist ein anderer: Viele, die zur Wahl gehen, ohne überhaupt zu wissen, wen sie wählen und was sie wählen, entziehen sich damit ihrer Verantwortung. Noch einmal und seien wir ehrlich: Wer hat sie schon gelesen, die Programme der Parteien, die ja bewusst so geschrieben sind, dass sie alles offen lassen, dass sie sinnentleert sind, und jeder das hineininterpretieren kann, was er will? „Nie wieder“, hieß es nach dem Dritten Reich, aber das, was nie wieder geschehen sollte, geschieht auch heute, jeden Tag.

Wir werden betrogen, ausgebeutet, missbraucht. Wir sehen in den Nachrichten Berichte über Kriege, über Mord und Vergewaltigung. Wir sagen „wie schrecklich“ und empören uns aus sicherer Entfernung. Und was tun wir? Nichts. Wir sind zu Zuschauern geworden, wir waren nie etwas anderes. Und Zuschauer sollen gefälligst zuschauen, das Geschehen nicht unterbrechen. Zuschauer heißen Zuschauer, weil sie zuschauen: Sagen sollen sie nichts.

Warum ich also nicht wählen gehe? Weil ich keine wirkliche Wahl habe, wenn ich wähle. Weil ich das sein und bleiben will, was mir unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung zusichert: frei und demokratisch. Ich möchte immer, jederzeit die Wahl haben und das Recht, meine Stimme zu erheben. Ich will meine Stimme nicht „abgeben“.

Ein Kommentar von Georg-W. Exler

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