Warum Just-in-Time mit der heutigen Timeline kollidiert
Produzieren ohne totes Kapital im Lager, ohne Kosten für Lagermitarbeiter und -technik. Diese Philosophie war hauptverantwortlich dafür, warum sich die globalen Wertschöpfungsketten seit den 1980ern in einem so extremen Maß diversifizierten. Möglich wurde es, weil in unglaublichen Anstrengungen eines der komplexesten und leistungsfähigsten Systeme der Menschheitsgeschichte erschaffen wurde: Logistik in heutiger Ausprägung.
• Gigantische Flotten,
• minutiös kalkulierte Transportzeiten und Preise,
• Streamlining sämtlicher Details und immer wieder
• Optimierung, Optimierung, Optimierung
ermöglichten es Firmen rund um den Globus, die seit Beginn der Industrialisierung übliche riesige Lagerhaltung ad acta zu legen. Plötzlich war es selbst im streng getakteten Fließbandbetrieb möglich, frische Teile genau dann vom LKW aufs Band zu laden, wenn die letzten Stücke der vorherigen Lieferung verbaut wurden. Und sowohl Shareholder als auch Kunden profitierten davon, weil die Kostenreduktionen teils gigantisch waren.
Bloß: Just-in-Time funktioniert nur dann, wenn alle Umgebungsbedingungen eine so pünktliche Logistik gestatten. Mit der Pandemie zogen hierbei immer mehr Unsicherheitsfaktoren ein. Durch den Ukraine-Krieg und die zunehmenden Misstöne zwischen Europa, den USA und China kamen weitere Problemherde hinzu.
In der Folge stotterte der Just-in-Time-Motor vielerorts. Selbst dort, wo er sich nach Pandemie-Ende wieder erholte, blieb dennoch zumindest ein fader Beigeschmack. Die Anfälligkeit des Systems, vor dem manche Experten schon immer gewarnt hatten, war Realität geworden. Während China aus Infektionsschutzgründen ganze Häfen und Großstädte in rigiden Lockdowns schloss, sahen sich zahlreiche Firmen über Nacht von ihrer Versorgung abgeschnitten. Bänder standen still, Termine platzten, Milliarden wurden sinnlos vergeudet.
Die Pandemie mag allmählich in Vergessenheit geraten. Der alte Modus Operandi samt Weltordnung ist jedoch bis auf Weiteres passé – besonders, wo es scheint, als würden wir uns an der Schwelle zum Zweiten Kalten Krieg befinden. Einer, bei dem sich ausgerechnet die Herzkammer der Just-in-Time-Fertigung, China, auf der anderen Seite des neuen „Eisernen Vorhangs“ befindet. Geschichte mag sich vielleicht nicht 1:1 wiederholen. Aber die alten Stärken von Lagerhaltung treten in der heutigen und künftigen Lage deutlich stärker hervor als in einer Welt, in der mehr politische Einigkeit und allgemeine Vorhersagbarkeit herrscht.
Lagerhaltung bedeutet Sicherheit in einer zunehmend von Unsicherheiten geprägten Welt
Nur wenige Tage, bevor dieser Artikel verfasst wurde, hielt China einmal mehr ein großes See- und Luftmanöver rings um Taiwan ab – und scheute sich dabei nicht, Dutzende Maschinen aggressiv in die Luftverteidigungszone des von China als „abtrünnig“ angesehenen Inselstaates eindringen zu lassen.
Keine Frage, das Reich der Mitte will sich bereits seit seiner Gründung Taiwan wieder einverleiben. Doch so säbelrasselnd wie seit einigen wenigen Jahren gab China sich nie. Und es verstärkt die Unsicherheit. Denn nicht nur gehört Taiwan zur Gemeinschaft demokratischer Staaten, sondern ist ein unverzichtbarer Baustein der globalen Wirtschaft – etwa in Sachen Elektronik und Halbleiter.
Würde China dereinst seine Drohungen wahrmachen und tatsächlich angreifen, wären die wirtschaftlichen Folgen verheerend. Denn viele westliche Staaten müssten entweder auf Taiwans Wirtschaftsleistung verzichten oder (zusätzlich) aus Solidarität auf diejenige Chinas – ähnlich, wie es aktuell mit den Boykotten russischer Rohstoffe und Waren geschieht.
Zumal es nicht nur China ist. Es sind
• die immer häufigeren Extremwetter durch den Klimawandel,
• die Fachkräftemängel in vielen Staaten,
• Lohngefälle und Preisspiralen und nicht zuletzt
• eine steigende Automatisierung, die viele einstige Problemzonen der Lagerhaltung abmildert.
Unterm Strich: Die Welt ist unsicherer geworden, weniger vorhersagbarer, holpriger. Dadurch werden die großen Stärken der Lagerhaltung, die in „besseren Zeiten“ gegenüber einer wie geschmiert laufenden Just-in-Time-Herangehensweise wenig Überzeugungskraft entfalteten, heute in besonderem Maß relevant – und ebenso in einer schwierig vorhersagbaren Zukunft.
1. Sicherheit:
Was man im Lager hat, das hat man einfach. Dabei spielt es keine Rolle, ob riesiger Industriekonzern, mittelständisches Familienunternehmen, kleiner Handwerksbetrieb oder Online-Händler. Ein ständig mit einer Mindestreserve gefülltes Lager bedeutet schlichtweg, wenigstens nicht binnen Stunden von sämtlichen potenziellen Störungen betroffen zu sein.
2. Handelsspielraum:
Mit einem vollen Lager können Firmen es sich leisten, bei verschiedenen Situationen erst einmal eine abwartende, beobachtende Haltung einzunehmen. Mehr Zeit ist gleichbedeutend damit, Reaktionen und andere Schritte sorgfältiger abwägen zu können – und somit besser durchdacht.
3. Neue Absatzmärkte:
Wer Lagerhaltung betreibt, kann in verschiedenen Situationen durchaus zum Helfer in der Not werden, indem er einen Teil seines Bestandes an andere Firmen veräußert. Es liegt auf der Hand, dass in solchen Lagen deutlich höhere Preise verlangt werden können, als beim einstigen Einkauf dafür zu bezahlen waren.
4. Reaktionszeit und Flexibilität:
Just-in-Time ist schnell. Aber wenn Teile oder Materialien per Schiff um den halben Globus verbracht werden müssen, ist das Prinzip dennoch langsam und dazu reaktionsträge. Eine gewisse Lagerhaltung gestattet es, besser auf verstärkte oder verringerte Nachfrage reagieren zu können. Das macht nicht zuletzt das gesamte diesbezügliche Controlling einfacher.
Zumal verschiedene heutige Entwicklungen Lagerhaltung insgesamt vereinfachen und günstiger machen. Beispiel Digitalisierung/Big Data/KI: Das gestattet es, Waren basierend auf historischen Profilen frühzeitig zu beschaffen – inklusive einer Sicherheitsreserve. Dadurch müssen heutige Lager nicht mehr so ausufernd groß sein, wie es vor der Etablierung von Just-in-Time war.
Ebenfalls muss kaum jemand den gesamten Aufwand betreiben und bezahlen, um ein eigenes Lager aufzubauen und zu betreiben. Gerade weil ein so großer Teil der Weltwirtschaft wieder zur Lagerhaltung zurückkehrt, etablieren sich derzeit unterschiedlichste Anbieter, die als Lagerlogistikdienstleister ihre Arbeit offerieren.
Die Spanne reicht von XXL-Hochregallager-Zentren, die problemlos den mehrwöchigen kompletten Teilebedarf eines ganzen Fahrzeugzuliefererwerks beherbergen, bis zu spontan buchbaren und skalierbaren Systemen, die sich mit Lagerflächen zwischen einem und wenigen Dutzend Quadratmetern konkret an kleinere Unternehmen mit geringerem Bedarf richten.
Immer steht eine Tatsache im Raum:
Egal, was in der Welt, an den Märkten oder bei den Kunden gerade passiert. Stets hat man in zumindest in LKW-Reichweite genügend Material und Lagerfläche, um wenigstens kleinere Störungen ohne Schwierigkeiten abfedern zu können. Ungeachtet, ob die Versorgungs- oder Abnahmewege davon betroffen sind.
Keine falsche Zurückhaltung – aber bitte Augenmaß: Die Herausforderungen der Lagerhaltung
Wer heute in einer leitenden Position arbeitet, kennt die riesigen Lager und deren Bestände wahrscheinlich höchstens noch aus seiner beruflichen Jugendzeit in der Praxis. Und naturgemäß haben sämtliche Entscheider seitdem eine weltweit weitgehend einheitliche Lehrmeinung vermittelt bekommen.
Eine, wonach Lagerbestände wie Versicherungen sind. Die meiste Zeit kosten sie Geld, sorgen für eine deutliche Kapitalbindung und reduzieren somit den finanziellen Handlungsspielraum. Und je größer das Lagerinventar ist, desto schwieriger wird es, auf Veränderungen in der Produktpalette zu reagieren. Die „Altbestände“ müssen ja schließlich erst einmal abgebaut werden.
Das alles ist definitiv eine Herausforderung der Lagerhaltung. Wie stark sie wirkt, hängt allerdings im Höchstmaß davon ab, wie Unternehmen das „Post-Just-in-Time-Lagern“ betrachten und angehen.
1. Grundsätzlich müssen Kosten und Nutzen miteinander verrechnet werden. Erneut stimmt hierbei die Versicherungs-Analogie: Selbst, wenn die Lagerhaltung an einem Großteil aller Tage nicht gebraucht wird, kann sie im entscheidenden Moment alle dafür aufgewendeten Kosten mehrfach aufwiegen. Einfach, weil ein Produktionsstillstand oder ähnliche Störungen ungleich teurer wäre – auch auf lange Sicht, weil Kunden abspringen und zur Konkurrenz gehen.
Allein während der jüngsten vier Jahre spürten das ungezählte Unternehmen: Selbst ausufernde Lager klassischer Prägung wären damals günstiger gewesen als die Schwierigkeiten, die durch Lockdowns und Ähnliches entstanden. So kostete beispielsweise der durch mehrere ungünstig verkettete Ereignisse ausgelöste Chipmangel der frühen 20er Jahre die globale Autoindustrie allein 210 Milliarden Dollar Umsatz. Mit diesem Geld hätte man sehr große Chip-Lager bauen und betreiben können.
2. Das moderne Lager bedeutet keine dauerhafte Abkehr vom Just-in-Time-Prinzip; keine entweder-oder-Entscheidung. Es wird wohl noch in vielen Jahren eine relevante Rolle spielen. Wenn aus politischen Gründen nicht mit China als Dreh- und Angelpunkt, dann eben mit anderen asiatischen Staaten oder viel näheren Nationen im Rahmen von Nearshoring, Friendshoring und ähnlichen Bestrebungen zur Abmilderung des bisherigen Far- und Offshorings.
Das bedeutet, moderne Lagerhaltung bleibt kleiner, wird stets den Charakter einer Notreserve beibehalten. Kein Ort, an dem Teile und Materialien erst Monate nach Anlieferung entnommen werden. Vielmehr eine Schleuse oder Durchgangsstation, deren Fluktuationsrhythmus nur wenige Tage beträgt.
Erneut ist es simpel: Ein heutiges Lager sollte so groß und kostenbindend sein, wie es der „Super-GAU“ eines totalen Liefer- und Produktionsausfalls wäre. Rechenbeispiele für Firmen ihrer Branche und Größe finden Entscheider allein in den zurückliegenden vier Jahren zuhauf – vielleicht sogar im eigenen Hause.