Ein Zurück in gute alte Zeiten bleibt Illusion

Die Bundesregierung einigt sich nach langem öffentlichem Gezerre auf ein „Wachstumschancengesetz“. Und in den USA richten sich alle Blicke auf die neue Hoffnungsträgerin Kamala Harris. Wird am Ende doch wieder alles gut? Und kehrt gerade Deutschland und kehren die deutschen Unternehmen nach der langen Phase der Wirtschaftsflaute jetzt wieder auf den alten Pfad des Wachstums zurück? Diese Fragen stellen sich derzeit viele in Deutschland – praktisch in einer Art Mantra, dass dort am langen Ende gut werden muss, was einfach gut werden muss. Doch die derzeitige Wirtschaftslage ist gerade nicht so, wie beim Kind, das nach einer langen dunklen Nacht den hellen Morgen herbeisehnt. Eine Garantie auf ein baldiges Aufhellen gibt es derzeit in der Wirtschaft nicht.

Kein Abschwung, sondern ein fundamentaler Wandel

Der Grund dafür ist einfach: Deutschland steckt nicht in einer konjunkturellen Delle, einem vorübergehenden Abschwung. Dr. Peter Steidl, „Behavior Change Expert“ bei der in Hannover ansässigen Strategie- und Kreativagentur Kochstrasse, hält dem Standort D schonungslos den Spiegel vor: „Vielmehr befinden wir uns in einem massiven Übergang, der uns durch eine lange Zeit des Wandels in eine Zukunft führen wird, die von neuen Technologien, neuen Lieferketten, neuen geopolitischen Arrangements, neuen staatlichen Prioritäten und dem Überleben der agilsten und flexibelsten Unternehmen geprägt sein wird.“ Mit anderen Worten: Unternehmen, die auf ein „Wird schon“ und auf ein „Weiter so!“ setzen, werden es zukünftig schwer bis unmöglich haben. Steidl: „Es gilt daher, die Notwendigkeit zu erkennen, heute zu handeln und die eigene unternehmerische Zukunft aktiv zu gestalten, anstatt von ihr überrascht zu werden.“ Peter Steidl befasst sich seit Jahren mit dem Themenkomplex der Markenführung in Zeiten der Unsicherheit und Angst. Seine Kernthese: Die Zukunft ist ungewiss, aber die massiven Änderungen bieten beispiellose Chancen für Vermarkter, die neue strategische Richtungen einzuschlagen bereit sind. Im Oktober erscheint dazu sein neuestes Buch – nutzwertig und optimistisch.

Klingt logisch, ist in der Praxis aber schwer. Wie jeder Einzelne und jede Einzelne von uns haben auch Unternehmen als ganze Organisationen ein bestimmtes Beharrungsvermögen, halten lieber am Bewährten fest, als Neues zu wagen. Doch in den Zeiten der Zeitenwende und des fundamentalen technologischen Wandels ist diese Strategie brandgefährlich.

Der erste Schritt der Veränderung beginnt damit, mehr zu erfahren über den „inneren Schweinehund“ auch in Organisationen und Unternehmen – und mit diesem Wissen dann entschieden dagegen vorzugehen. Genau auf dieser Denke beruht der Beratungsansatz der Agentur Kochstrasse. 1995 auf einem Dachboden in der gleichnamigen Straße in Hannover-Linden gegründet, arbeiten dort heute mehr als 60 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter für renommierte Kunden aus dem Großraum Hannover und ganz Deutschland – darunter Unternehmen wie Continental, Daimler, TUI, Volkswagen, Rossmann, Komatsu, Sennheiser, die AOK Niedersachsen oder das Land Niedersachsen. Kochstrasse definiert sich als Strategie- und Kreativagentur mit den Kernkompetenzen Neuromarketing, Strategie und Consulting, Kampagne und Branding, Motion/Film und 3D sowie Social Media und GIF-Marketing.

Unternehmensstratege Peter Steidl hat ein weiteres Problem ausgemacht: die Strategieprozesse in den Unternehmen. Er spricht den Firmen nicht den Willen zum Wandel ab, stellt aber Folgendes fest: „Wir können nicht ignorieren, dass deutsche Unternehmen ihre Strategien, Prozesse und Systeme stark an den vorherrschenden Rahmenbedingungen ausgerichtet haben – und das war, wie wir bis vor kurzem erlebt haben, ein Wachstumsumfeld.“ Doch die Weltwirtschaft wächst nicht mehr wie früher. Die Globalisierung ist ins Stocken geraten, verkehrt sich angesichts des zunehmenden Protektionismus gerade zwischen den USA und China aktuell sogar in ihr Gegenstück. Das auf Export, Export, Export ausgerichtete deutsche Wirtschaftsmodell, das über viele Jahre und Jahrzehnte so erfolgreich schnurrte wie der Motor eines „Golf“, kommt da an seine Grenzen.

Erkenntnis ist gereift – doch Reformhandlungen bleiben oft noch aus

Experten machen mehr und mehr Anzeichen dafür aus, dass sich die deutsche Industrie nicht leicht an Veränderungen anpassen kann: Trotz der Stärke seines Industriesektors hinkt Deutschland bei der Digitalisierung und dem neuen Boom-Thema künstliche Intelligenz hinterher.

Steidl: „Natürlich sind sich unsere Industrieführer darüber im Klaren, dass die Unternehmen agiler und flexibler werden müssen, Silos aufbrechen, mehr in die Ausbildung der Mitarbeiter investieren und die traditionelle Ingenieurskultur durch eine agile und flexible Kultur ersetzen müssen, die mehr Wert auf kulturelle Passung legt.“ Am Willen liegt es also nicht. Auch nicht an der generellen Erkenntnis in der Politik, dass Steuerbelastung und Bürokratielasten die Unternehmen teilweise ausbremsen oder die Schul- und Berufsausbildung in die digitale Neuzeit transportiert werden müssen.

Doch zu wissen, was zu tun ist, und entschlossen zu handeln, das sind zwei verschiedene Dinge. Steidl: „Die Geschichte ist voll von Beispielen dafür, wie umfassend wir ein bekanntes Problem ignorieren können, bis es dringend wird, wie zum Beispiel die Klimakrise. Leider (aber nicht überraschend, wenn man bedenkt, wie unsere Gehirne programmiert sind) liegt es in der menschlichen Natur, sich mit den heutigen Symptomen zu befassen und nicht mit den eigentlichen Ursachen.“

Das Problem ist, dass zu viele Entscheidungsträger immer noch hoffen, dass Deutschland irgendwie, bald irgendwann zur früheren Wachstumsphase zurückkehrt und all die gegenwärtigen Umwälzungen dann nur noch eine ferne Erinnerung sind. Steidl: „Und solange wir uns an diese Hoffnung klammern, können wir uns einreden, dass wir keine dramatischen Maßnahmen ergreifen müssen.“

Anders machen es ausgewählte Unternehmen, die innovativ sind und auch vor radikalen Schritten nicht zurückschrecken: Autohersteller Volkswagen zum Beispiel hat begonnen, einen Teil seiner Forschung und Entwicklung nach China zu verlagern, hat dort Tausende von Ingenieuren eingestellt. Steidl: „Ja, das wird der Beschäftigung in Deutschland schaden, aber nicht annähernd so sehr wie der drohende gesamte Niedergang von Volkswagen und der Verlust seiner führenden Position in der Automobilindustrie, wenn man auf eine magische Rückkehr zu den guten alten Zeiten hofft und nur schrittweise handelt.“

Solarindustrie: Menetekel für die Rasanz und Brisanz des Wandels

Nach seinen Worten ist es jetzt an der Zeit, sich neu zu erfinden, die Stärken zu identifizieren, auf denen Unternehmen aufbauen können, und diese auf andere Weise oder in neuen Anwendungen einzusetzen. Dies gilt insbesondere für Unternehmen, die eine enge, aber wichtige Rolle in Lieferketten spielen, die sich massiv verändern werden, wie beispielsweise die Unternehmen des traditionellen Automobilsektors.

Ein weiteres Beispiel dafür, wie schnell der Niedergang einsetzen kann, ist die Solarzellenindustrie. Deutschland war Anfang der 2000er-Jahre dabei, auf dem Feld der Photovoltaik eine starke Position aufzubauen – getrieben durch die massive Subventionspolitik der damaligen rot-grünen Bundesregierung unter Gerhard Schröder. Doch die aggressiven chinesischen Hersteller veränderten das Spiel, indem sie den Markt mit billigeren Platten überschwemmten und gleichzeitig in fortschrittliche Technologien investierten. Die US-Politik reagierte darauf mit der Einführung erheblicher Zölle, was dazu führte, dass Solarpaneele, die normalerweise in die Vereinigten Staaten exportiert worden wären, ihren Weg auf die europäischen Märkte fanden.

Die Folge: Viele deutsche Hersteller mussten Konkurs anmelden. Nur wenige zeigten Flexibilität und die Bereitschaft, sich der Realität zu stellen, und verlagerten oder verlagern einen Teil ihrer Produktion in die USA, um von den dortigen, weitaus günstigeren Produktionsbedingungen zu profitieren. In einigen Industriezweigen vollzieht sich der Wandel nur langsam. In anderen wie der Autoindustrie geschieht er schnell und tiefgreifend – und ist vor allem technologiegetrieben. In anderen wiederum kommt der Wandel aufgrund von Wettbewerbsdruck und staatlichen Vorschriften plötzlich. Steidl: „Aber in allen Fällen ist der disruptive Wandel nicht unvorhersehbar – nur die Geschwindigkeit des Wandels ist oft schwer vorherzusagen.“

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