Finanzwelt erklärt: Wir haben die Ausfahrt zu Beginn der Eurokrise verpasst

Teil 6: Wir haben die Ausfahrt zu Beginn der Eurokrise verpasst

Wirtschaftsforum: Herr Mudlack, mit dem Thema Target2-Salden sprechen wir ein europäisches Zahlungsverkehrssystem an. Lässt sich so etwas überhaupt für den Laien verständlich erklären?

Benjamin Mudlack: Das Target-System gewährleistet den Zahlungsverkehr, Vermögensaustausch und den Liquiditätsfluss zwischen den Zentralbanken des Eurosystems. Anhand der Target2-Salden kann man ablesen, ob eine Zentralbank per Saldo mehr Forderungen oder Verbindlichkeiten gegen die übrigen Zentralbanken innerhalb des Eurosystems hat. Ein positiver Saldo ergibt also einen Forderungsanspruch und ein negativer Verbindlichkeiten gegen das Eurosystem beziehungsweise die anderen Zentralbanken.

Diese enormen Salden, die wir anhand der Grafik dargestellt haben, kommen durch die Anleihekäufe der EZB zustande und sind nichts anderes als eine nachgelagerte Finanzierung oder Umfinanzierung der Leistungsbilanzdefizite der südlichen Euroländer.

Lassen Sie uns die Vorgänge kurz am Beispiel Italiens veranschaulichen: Italien hat über Jahrzehnte hinweg immense Leistungsbilanzdefizite aufgebaut. Man hat also deutlich mehr Güter wie Autos und andere aus Deutschland gekauft, als Güter aus dem eigenen Land an Deutschland verkauft. Um diese zu bezahlen und somit das Leistungsbilanzdefizit zu refinanzieren, hat man Staatsanleihen als Geldanlage an Investoren verkauft. Sagen wir an die Münchener Rück, man könnte auch andere Kapitalsammelstellen wie eine Bank nehmen. Die Münchener Rück erhielt eine entsprechende Verzinsung und hat dieses Staatspapier der Italiener dann als Investment im Portfolio.

Benjamin Mudlack, Bankkaufmann und Dipl. Wirtschaftsinformatiker
„Diese enormen Salden sind nichts anderes als eine nachgelagerte Finanzierung oder Umfinanzierung der Leistungsbilanzdefizite der südlichen Euroländer.“ Benjamin MudlackFinanzexperte

Die Kaufprogramme der EZB rufen nun die Deutsche Bundesbank und die Banca d´Italia auf den Plan. Der Rückkauf der italienischen Staatsanleihen aus dem Depot der Münchener Rück geschieht nun, indem die Deutsche Bundesbank der Banca d´Italia ein Darlehen gibt, es wird also nach alt bekannter Methode in der Deutschen Bundesbank Geld durch Kreditvergabe geschöpft. Die Deutsche Bundesbank hat eine Forderung gegen das Eurosystem und dieses wiederum gegen die Banca d´Italia. Die Münchener Rück erhält gegen die Herausgabe der Staatsanleihe Liquidität und diese zirkuliert und fliest dann zum Beispiel in den Aktienmarkt oder andere Vermögensanlagen, was dann in diesen Assetklassen zu steigenden Preisen führt. Die Anleihe befindet sich dann wieder in Italien und die Münchener Rück hat das Risiko einer italienischen Staatspleite aus der Bilanz. Italien hat also nun keinen möglicherweise unangenehmen privaten Gläubiger mehr, sondern mit der Deutschen Bundesbank einen öffentlichen und politisch erpressbaren/systemabhängigen Gläubiger.

Wirtschaftsforum: Für Deutschland beziehungsweise die Deutsche Bundesbank scheint das Target2-Saldo keine negative Angelegenheit zu sein. Die Kurve entwickelt sich steil nach oben im positiven Bereich. Weshalb können wir uns nicht einfach zurücklehnen und uns an dem Wachstum erfreuen?

Benjamin Mudlack: Das Wachstum von dem Sie hier sprechen, gab es schon in den vergangenen Jahrzehnten. Nochmal: Wir sprechen hier von einer Umfinanzierung beziehungsweise Nachfinanzierung der Leistungsbilanzdefizite der südlichen Länder. Unsere Bundesbank darf einen Zins in Höhe des Hauptrefinanzierungssatzes verlangen. Dieser wurde von der Mehrheit des EZB-Rates auf null gesetzt. Der EZB-Rat besteht übrigens zu 60% aus Ländern, die Nettoauslandsschulden haben.

Benjamin Mudlack, Bankkaufmann und Dipl. Wirtschaftsinformatiker
„Unser gewachsener Wohlstand wird riskiert, denn die Wahrscheinlichkeit einer Rückzahlung der Target2-Salden ist sehr gering.“ Benjamin MudlackFinanzexperte

Die aus den Target2-Salden resultierenden Forderungen der Deutschen Bundesbank haben keine Laufzeit und keine Möglichkeit zur Kündigung. Bei der Münchener Rück hatte Italien im Rahmen der Anleihe einen Zins und eine feste Laufzeit. Ich frage Sie nun aus Sicht der Deutschen Bundesbank ernsthaft, ob ein ordentlicher und seriöser Kaufmann ein derartiges Geschäft eingehen würde. Wo Sie da eine positive Entwicklung herleiten, erschließt sich mir nicht!

Der Target2-Saldo der Deutschen Bundesbank erhöht sich derzeit jeden Monat um 10 bis 20 Milliarden EUR und beläuft sich auf mittlerweile fast 850 Milliarden EUR. Das sind unglaubliche Zahlen und fast die Hälfte des Netto-Auslandsvermögens der Bundesrepublik Deutschland. Allein dieser Vergleich verdeutlicht diesen Akt der Unvernunft und zeigt, was auf dem Spiel steht. Unser Auslandsvermögen wurde historisch aus der Summe der hart erarbeiteten Leistungsbilanzüberschüsse aufgebaut. Dieser, unser gewachsener Wohlstand wird riskiert, denn die Wahrscheinlichkeit einer Rückzahlung der Target2-Salden ist sehr gering. Durch die Salden hat sich Deutschland in Hinblick auf etwaige Abstimmungen zur endgültigen Transferunion oder weiteren Forderungen Emmanuel Macrons abhängig gemacht.

Benjamin Mudlack, Bankkaufmann und Dipl. Wirtschaftsinformatiker
„Wettbewerbsfähigkeit kann man auf Dauer nicht durch Verschuldung gewährleisten, das geht schief.“ Benjamin MudlackFinanzexperte

Wirtschaftsforum: Wenn diese Entwicklung für einzelne Länder perspektivisch mit hohen Risiken verbunden ist, warum zieht niemand die Notbremse?

Benjamin Mudlack: Wie gerade ausgeführt, sehe ich die Risiken eher bei der Deutschen Bundesbank und damit bei uns. Ich halte diese Politik für verantwortungslos gegenüber den Bürgern unseres Landes. Mit der Einführung des Euros wurde der Lebensstandard in den südlichen Euroländern durch die plötzlich günstigen Zinsen künstlich gesteigert. Der Kreditfluss durch die günstigen Zinsen ermöglichte es, die Löhne stärker steigen zu lassen als die Produktivität. Im weiteren Verlauf waren diese Länder auch aus diesem Grund nicht mehr wettbewerbsfähig.

Wettbewerbsfähigkeit kann man auf Dauer nicht durch Verschuldung gewährleisten, das geht schief. Und mit dem Überschwappen der Krise 2008 aus den Vereinigten Staaten platzte die Kreditblase auch im südlichen Europa. Die Folgen in Bezug auf die Wirtschaftsleistung, Arbeitslosenzahlen und anderen Wirtschaftsdaten der südlichen Länder sind bekannt und werden in der Lehre gern mit der sogenannten „Holländischen Krankheit“ verglichen.

Die von Ihnen angesprochene Notbremse wäre eine frühzeitige Neuordnung des Systems gewesen. Diese Ausfahrt hat man zu Beginn der Eurokrise aus mir unbekannten Gründen nicht genommen. Ein Nord- und Südeuro wäre ein gangbarer Weg gewesen oder eine vollumfängliche Rückkehr zum alten System der eigenen Landeswährungen und flexiblen Wechselkurse. Auch gegen eine geplante und geordnete Abwicklung der in Not geratenen Länder mit Gläubigerbeteiligung hat man sich unsinnigerweise entschieden. Wir haben absolut keine Budgetdisziplin. Das halte ich für bedenklich.

Benjamin Mudlack, Bankkaufmann und Dipl. Wirtschaftsinformatiker
„Der von den Zentralbanken eingeschlagene Weg der ultralockeren Geldpolitik wird mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit so lange fortgesetzt, wie es möglich ist.“ Benjamin MudlackFinanzexperte

Wirtschaftsforum: Jetzt gibt es sogenannte Crash-Propheten, die anhaltend vor dem Ende der uns bekannten Finanzwelt warnen. Dürfen wir angesichts dessen überhaupt noch frohen Mutes Weihnachten feiern?

Benjamin Mudlack: Niemand besitzt die vielzitierte Glaskugel und kann ein gewisses Ereignis zeitlich exakt und seriös voraussagen. Jedoch steigen mit jedem Tag die Wahrscheinlichkeiten für eine Neuordnung des Systems. Man sollte in Szenarien denken und sich auf jedes einzelne Szenario gewissenhaft vorbereiten, sich weiterbilden und die sich ergebenden Chancen erkennen und nutzen. Bildung möchte ich an der Stelle nicht allein auf die finanzielle Bildung reduzieren, sondern auch in Bezug auf die fortschreitende Digitalisierung ausdehnen. Da werden sich viele interessante und lukrative, spannende neue Geschäftsfelder entwickeln. Der von den Zentralbanken eingeschlagene Weg der ultralockeren Geldpolitik wird mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit so lange fortgesetzt, wie es möglich ist. Das kann noch sehr lange so weitergehen und so lange hat man Zeit sich vorzubereiten. Welcher „Schwarze Schwan“ eine Krise auslöst, weiß niemand.

Den Begriff „Schwarzer Schwan“ prägte in diesem Zusammenhang übrigens der recht bekannte Börsenhändler und Buchautor Nassim Nicholas Taleb. Er schrieb über die Macht höchst unwahrscheinlicher Ereignisse, die dann unter Umständen eine Krise auslösen und die kaum vorhersehbar sind. Krisen und Systemneuordnungen gab es in der Menschheitsgeschichte immer und sie wird es immer wieder geben. Es ging immer weiter und ich sehe in jeder Krise die Chance auf eine verbesserte Neuordnung. Als positiv eingestellter Mensch sollte man gewisse Missstände analytisch distanziert betrachten und die sich ergebenden Chancen suchen und nutzen.

In jedem Fall sollte man Weihnachten und auch darüber hinaus jeden anderen Moment und Tag genießen und sich nicht von Eventualitäten oder Nebengeräuschen verunsichern lassen.

Lesen Sie den siebten Teil unseres Expertenwissens "Finanzwelt erklärt":
Bitcoin? Eine harte Währung definiere ich anders 

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