Was nutzen uns die Exporterfolge, wenn sie nicht zu mehr Wohlstand bei uns führen?
Interview mit Dr. Daniel Stelter, Ökonom, Berater, Blogger und Buchautor
Wirtschaftsforum: Herr Dr. Stelter, beunruhigt Sie die Sorglosigkeit in den Reihen der deutschen Unternehmen gegenüber den geopolitischen Umbrüchen in der Welt?
Daniel Stelter: Ich denke dieser Eindruck täuscht. Die Unternehmen sind sich sehr wohl der Gefahren bewusst und stellen sich auf diese soweit möglich ein. Sie können ein Unternehmen nicht im permanenten Krisenmodus fahren. Denken Sie zurück an das Jahr 2009. Alles sah danach aus, als wären wir auf dem Weg in eine neue Weltwirtschaftskrise. Wer damals auf dieses Szenario gesetzt hat, wäre heute der große Verlierer. Unternehmen müssen immer nach Chancen suchen, sich zugleich aber so wetterfest aufstellen, dass sie im Falle einer erneuten Krise nicht in Schwierigkeiten geraten. Genau das tun die deutschen Mittelständler, die seit 2009 die Verschuldung zurückgefahren haben und mit ihren Investitionen vorsichtig sind.
Wirtschaftsforum: Täuscht das gute Wirtschaftswachstum darüber hinweg, jetzt die eigene Unternehmensstrategie überdenken zu müssen? Oder haben Wirtschaftsführer längst reagiert und reden nur nicht darüber?
Daniel Stelter: Natürlich besteht die Gefahr. Die deutsche Wirtschaft brummt und eilt von Exporterfolg zu Exporterfolg. Was dabei übersehen wird ist, dass wir direkt und indirekt von der chinesischen Wirtschaft abhängen, die ihrerseits von immer mehr Schulden abhängt. Dort braut sich eine potentiell noch größere Krise als 2009 zusammen. Hinzu kommt der Euro, der unstrittig aus deutscher Sicht zu schwach ist und damit ebenfalls zu den Exporterfolgen beiträgt. Beides keine dauerhaft stabilen Faktoren. Wir befinden uns in einer Wohlstandsillusion, die schneller und drastischer enden könnte, als wir es uns vorstellen können.
„Wir befinden uns in einer Wohlstandsillusion, die schneller und drastischer enden könnte, als wir es uns vorstellen können.“ Dr. Daniel StelterÖkonom, Berater, Blogger und Buchautor
Daniel Stelter: Zugleich haben immer mehr Unternehmen Notfallpläne in der Schublade und versuchen sich auf die großen Risiken einzustellen. Nehmen wir als Beispiel den Euro. Meine Gesprächspartner durchschauen, dass die Ursachen der Eurokrise nicht überwunden sind und es nur das billige Geld der EZB ist, welches die Währungsunion noch zusammenhält. Entsprechend versuchen sie, Vorsorge zu treffen, was angesichts der dramatischen Verwerfungen die im Falle eines Zerfalls der Eurozone zu erwarten wären, nicht leicht ist. Gleiches gilt für das Problem des zunehmenden Protektionismus. Die Unternehmen erfahren die Handelshemmnisse im täglichen Geschäft, sprechen darüber jedoch nicht offen, weil sie weitere Repressalien fürchten. So ist die Euphorie mit Blick auf China längst verflogen. Die Unternehmen erkennen, dass sie in China nur solange mitspielen dürfen, bis die lokalen Wettbewerber etabliert und stark genug sind. Deshalb orientieren sie sich auf neue Märkte.
Wirtschaftsforum: Wie könnte oder sollte eine strategische Neuausrichtung aussehen?
Daniel Stelter: Wirtschaftliches Wachstum hängt im Kern von zwei Faktoren ab: dem Wachstum der Erwerbsbevölkerung und den Produktivitätszuwächsen. Letztere sind in den letzten Jahren deutlich zurückgegangen, während die Erwerbsbevölkerung in Europa und vor allem Deutschland vor einem dramatischen Rückgang steht, der durch Zuwanderung nicht gestoppt werden kann. In anderen Regionen der Welt, vor allem in Asien stehen wir hingegen vor einer weiteren Phase hohen Wachstums. Europa und damit Deutschland wird als Produktionsstandort deshalb in mehrfacher Hinsicht weniger attraktiv: mehr staatliche Eingriffe, mehr Umverteilung für eine alternde Gesellschaft, Personalmangel, zunehmende schlechtere Bildungsleistungen und stagnierende beziehungsweise schrumpfende Märkte. Strategisch bedeutet dies für Unternehmen sich auf diesen grundlegenden Wandel einzustellen. Neben der radikalen – ich sage bewusst „radikalen“ – Automatisierung ist das vor allem der Aufbau von Produktions- und Forschungskapazitäten in den Märkten der Zukunft.
Lesen Sie Teil 2 des Interviews: Die Akzeptanz der EU basiert vor allem auch auf dem Wohlstandsversprechen